Aktenzeichen XX und XY gelöst

■ Englische Forscher bestimmen wenige Stunden nach IVF Erbanlagen und Geschlecht der Embryonen / Auslese schon in der Petrischale

Es sei unmenschlich, empörte sich der sogenannte Vater des ersten Retortenkindes, Robert Edwards, bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Iserloh, fast „vollendete Babies“ im fünften Monat aus dem Mutterleib herauszureißen, weil eine Genanalyse nach der Fruchtwasserentnahme eine genetische Krankheit gezeigt hätte. Viel humaner sei es, Paaren, in deren Familien Erbkrankheiten bekannt seien, zur Reagenzglas-Befruchtung zu raten. Man könne dann eine Genanalyse an einigen im frühen Entwicklungsstadium abgetrennten Embryonalzellen durchführen - die sogenannte Präimplantationsdiagnostik -, um anschließend nur „gesunde“ Embryonen in die Gebärmutter der Frau zurückzusetzen.

Der Engländer Robert Edwards hatte schon 1985 in dieser Möglichkeit eine Genanalyse an Retortenembryonen, den in seinen Augen wesentlichen Anwendungsbereich der Embryonenmanipulation und der Reagenzglas-Befruchtung (In -vitro-Befruchtung IVB) gesehen. Jetzt wurde der Vordenker Edwards in der praktischen Umsetzung seiner Ideen von den Kollegen Robert Winston und Alan Handyside vom Londoner Hammersmith Hospital aus dem Rennen geschlagen. Am 19. April dieses Jahres berichteten sie in der Zeitschrift 'Nature‘ über ihre laufende Arbeit. Nach der Behandlung von „fünf Paaren, die das Risiko der Übertragung von an X-Chromosomen gebundenen, rezessiven Erbkrankheiten“ hätten, sei es zu zwei Schwangerschaften gekommen. Nach vielen Versuchen an tierischen und menschlichen Embryonen, besonders in Großbritannien und Australien, ist dies der erste Bericht von einer erzielten Schwangerschaft nach einer Präimplantationsdiagnose.

Die Autoren beschreiben, wie sie mit den zunächst als „normal befruchteten“ selektierten Embryonen vorgegangen seien: Die zona pellucida, die schützende Hülle des Embryos, wird durchbohrt, eine Mikropipette eingeführt und ein bis zwei Zellen des Embryos entnommen, das zu diesem Zeitpunkt aus acht Zellen besteht. Bei der Betrachtung der DNA -haltigen Zellkerne unter dem Mikroskop, wird die DNA (Erbmaterial) der entnommenen Zellen auf Abschnitte untersucht, die für das Y-Chromosom spezifisch sind. Die dazu verwendete Technik heißt Amplifikation mittels polymerase chain reaction. Männliche Embryonen haben ein X und ein Y-Chromosom, weibliche zwei X-Chromosomen. Bei den sogenannten X-gebundenen Erbkrankheiten haben männliche Embryonen, deren Mutter Überträgerin ist, eine 50prozentige Chance, die Krankheit zu bekommen. Weibliche Embryonen haben je 50 Prozent die Chance, Überträgerin zu werden oder kein verändertes Gen zu bekommen. Krank werden die weiblichen Embryonen in jedem Fall nicht.

Bei aller Akribie des 'Nature'-Berichts sind die Details der Behandlungen der Frauen selbst lediglich aus einigen Nebensätzen und Tabellen rekonstruierbar. Offensichtlich sind alle mit Substanzen behandelt worden, die die Schilddrüsenfunktion unterdrückt und eine Art biochemische Menopause auslöst, daß heißt, der gesamte Hormonzyklus wird stillgelegt. Bei der dann nachfolgenden hormonellen Stimulierung reifen wesentlich mehr Eizellen als ohne diese Vorbehandlung. So wurden von jeder Frau im Durchschnitt 11,2 Eizellen pro Zyklus entnommen. Bei einer Frau waren es sogar 21 Eizellen! Zum Vergleich: Bei einem natürlichen Zyklus reift in der Regel nur eine Eizelle heran. Bei der IVB empfiehlt die Bundesärztekammer nicht mehr als ca. sechs Embryonen zu entnehmen und maximal vier zurückzusetzen. Komplikationen bei den Frauen sind bei einer derartigen Überstimulierung unvermeidbar. Doch darüber verlieren die Autoren kein Wort.

Statt dessen präsentierten Winston und Handyside die bekannte Berechnung von Erfolgsraten. Bei den insgesamt zehn Behandlungszyklen seien jeweils ein bis zwei der nach Befruchtung und Geschlechtsanalyse übriggebliebenen weiblichen Embryonen übertragen worden. „Angegangen“ seien zwei Schwangerschaften, bei denen es sich um zwei Zwillingspaare handelt. Das ergibt vier Schwangerschaften bei insgesamt 17 untersuchten und übertragenen Embryonen stolze 24 Prozent. Eine Zahl, die ihrer Meinung nach die Präimplantationsdiagnose bereits zur „gangbaren Alternative für viele Familien mit genetischen Defekten“ erhebt.

Bei diesen ersten Versuchen sind es die männlichen Embryonen, die „ausselektiert“ und vernichtet werden. Die weiblichen werden in die Gebärmutter verpflanzt. Wissenschaftlich wird man dieses Vorgehen vermutlich damit begründen, daß eine Reihe schwerer Stoffwechselkrankheiten x -gebunden vererbt wird. Andererseits schadet es bei der Akzeptanzförderung nicht, daß man sich zunächst von der Aussonderung weiblicher Embryonen und Föten fernhält, wie sie massenweise vor allem in Indien praktiziert wird.

Vielleicht erinnert sich die Öffentlichkeit noch an die Äußerung britischer Humangenetiker, die eine Geschlechtswahl durchaus für legitim halten, etwa wenn der Bauer noch einen Hoferben sichern will. Umfragen über Geschlechterpräferenzen zeigen, daß auch in der westlichen Welt, zumindest beim ersten Kind, der männliche Nachwuchs nach wie vor eindeutig bevorzugt wird.

Daß baldmöglichst eine wachsende Anzahl von Erbkrankheiten mit Hilfe von Gen-Sonden am Embryo diagnostiziert werden können und sollen, stellen nicht nur die englischen Forscher Handyside und Winston fest. In einem Bericht an die deutsche Ärzteschaft schrieb der Aachener Reproduktionsmediziner H. Beier davon, daß „es die überzeugte Meinung zahlreicher Molekularbiologen und Genetiker“ sei, „daß eines Tages an das junge Embryonalstadium vor der Implantation nicht nur eine einzige kritische diagnostische Frage gerichtet wird, sondern zur gleichen Zeit fünf, sechs oder mehr kritische Tests an einer einzigen Zelle durchgeführt werden.“ Sollte das heißen, daß in einer Familie mehrere nichttherapierbare oder tödlich verlaufende Krankheiten weitergegeben werden könnten? Bei der Seltenheit solcher Krankheiten wird das kaum der Fall sein. Aber worum geht es dann? Die Antwort ist in 'Nature‘ aus der laufenden Berichterstattung über die Projekte zur Kartierung und Entschlüsselung der menschlichen DNA leicht abzulesen: Man rüstet sich für die praktische Umsetzung der vermeintlichen genetischen Aufklärung von sogenannten Prädispositionen für Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Depressionen, Asthma und Herzinfarkte.

Doch es ist nicht auszuschließen, daß ein Beschneiden der menschlichen genetischen Vielfalt durch Selektion eines Tages ähnliche „Folgeprobleme“ heraufbeschwört wie bei überzüchteten Tierrassen. Aber lange vorher droht die soziale Katastrophe der neuen Genetik, in der oft geleugneten Allianz mit der Reproduktionsmedizin: Behinderte, Zivilisations-, aber dabei auch psychisch Kranke, sollen schon in der Petrischale aufgespürt werden. Schließlich ging es bei einer der zwei Schwangeren nicht etwa um eine tödliche Krankheit, sondern um das Verhindern einer X-Chromosomen verbundenen geistigen Behinderung.

Für 'Nature‘ bedeutet das nicht etwa, daß die Präimplantationsdiagnostiker sich schon mitten in der Rutschpartie in Richtung eugenische Gesellschaft befindet. Sie gehen davon aus, daß ihre Argumente von dem praktischen Segen der Genforschung überzeugen werden. Mit der Verabschiedung des Embryonengesetzes durch das Unterhaus in der vergangenen Woche scheinen die 'Nature'-Editorials die gewünschte Wirkung erzielt zu haben.

Paula Bradish