Daimlerarbeiter streikten am Brückentag

Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie tritt in die entscheidende Phase / Warnstreiks in Untertürkheim und Sindelfingen mit großer Beteiligung / Hat die IG Metall die Kündigungsfrist verschlafen? / Die Gewerkschaft widerspricht 'Spiegel'-Darstellung  ■  Aus Stuttgart Erwin Single

„Was die Arbeitgeber bisher am Verhandlungstisch geboten haben, ist schlicht zu wenig“, erklären einmütig die wenigen Metaller, die sich als Streikposten gestern am Tor des Untertürkheimer Mercedes-Benz-Werks einfanden. Nur einige Angestellte schleichen sich an den flugblattverteilenden Gewerkschaftern vorbei. Hier sitzt die Verwaltung von Mercedes; fast die Hälfte der 38.000 dort Beschäftigten sind Angestellte. Doch der Großteil der Belegschaft hat die Arbeit an diesem Montag gar nicht erst aufgenommen: Er blieb zu Hause.

Der Termin zwischen diesem Sonntag und dem Tag der Arbeit für den ersten ganztätigen Warnstreik in der Metallindustrie war nicht schlecht gewählt. Nach Angaben der IG Metall -Verwaltungsstelle Stuttgart beteiligten sich etwa 65.000 Metaller an den Aktionen, davon allein 35.000 bei Mercedes in Sindelfingen und 18.000 in Untertürkheim. Die Produktion in den beiden Werkshallen des Nobelkarossenherstellers stand still. Geschätzter Produktionsausfall: Etwa 1.000 neue Schlitten konnten nicht vom Band rollen. Auch in den ABE -Werken in Heidelberg liefen die Maschinen nicht, weil 2.500 Beschäftigte der Arbeit fernblieben.

Während die Mercedes-Geschäftsleitung erklären ließ, Zehntausende hätten an diesem Tag ohnehin Urlaub genommen, war man bei der Stuttgarter IG Metall mit der Streikbeteiligung hoch zufrieden. „Bisher hat es die Daimler -Benz-AG immer abgelehnt, solche Brückentage auf Wunsch der Arbeitnehmer freizumachen“, sagte der Bevollmächtigte Ludwig Kemeth, der die Mercedes-Verlautbarung als „irreführend“ zurückwies.

Auch in der IG Metall-Bezirksleitung wurde die hohe Beteiligung an den Warnstreiks mit Genugtuung aufgenommen. Viele der Daheimgebliebenen dürfte die Nachricht erst im Laufe des Tages erreicht haben, die in der Stuttgarter Bezirksleitung die Telefone heißlaufen ließ. Das Nachrichtenmagazin 'Spiegel‘ hatte berichtet, die Metaller in Baden-Württenberg dürften gar nicht streiken, weil ihre Gewerkschaft die alten Tarifverträge zu spät gekündigt habe. Das Kündigungsschreiben sei den Arbeitgebern erst einen Tag nach Ablauf der Frist zugestellt worden. Die Friedenspflicht ende daher erst am 29.Mai; vorher könne die Metallgewerkschaft nicht zu Warnstreiks oder zur Urabstimmung aufrufen.

In der Bezirksleitung wurden die Anschuldigungen, ihnen sei eine folgenschwere Panne unterlaufen, hefig dementiert. Die 'Spiegel'-Behauptungen wurden als eine „gezielte Kampagne“ gegen die IG Metall bezeichnet. Die Tarifverträge seien jeweils zu Beginn der ersten Verhandlungsrunde in allen drei südwestdeutschen Tarifgebieten mündlich gekündigt und die Kündigungen vorsorglich noch einmal schriftlich nachgereicht worden, erklärte IG Metall-Sprecher Edgar Schmidt. Der Verband der Metallindustrie (VMI) Nordwürttemberg/Nordbaden und der Arbeitgeberverband der Badischen Eisen- und Metallindustrie hätten die Kündigungen bestätigt. „Wenn die Warnstreiks rechtswidrig wären“, so Schmidt, „hätte uns die Mercedes-Benz AG gleich eine einstweilige Verfügung geschickt.“ Der VMI Südwürttemberg/Hohenzollern scheint diese Form der Kündigung jedoch nicht zu akzeptieren - oder er hat sie während der Verhandlung überhört: Er hat am vergangenen Donnerstag das tarifliche Schiedsgericht angerufen. Nach Auffassung der Gewerkschaft jedoch zu spät, denn nach dem Schiedsverfahren hätte der Antrag nach spätestens drei Wochen eingereicht sein müssen.

Unterdessen tritt die Tarifrunde am Verhandlungstisch in die entscheidende Phase. Morgen werden Bezirksleiter Walter Riester und VMI-Präsident Dieter Hundt in Göppingen den letzten Versuch unternehmen, eine Verhandlungslösung zu erzielen. Am Samstag wird die große Tarifkommission der IG Metall entscheiden, ob in Nordwürttemberg/Nordbaden die Verhandlungen als gescheitert gelten. Sollte es zu keiner Einigung kommen, kann dann in der dritten Maiwoche eine Urabstimmung über einen Streik stattfinden.