„Gorbatschow, wir vertrauen Dir nicht mehr“

Einen so bunten 1.Mai hat Moskau lange nicht gesehen - aber Volksfeststimmung kam dennoch nicht auf / Die Prominenz versuchte, sich zurückzuhalten / Politikmüdigkeit macht sich breit: „Nichts bewegt sich wirklich“  ■  Aus Moskau Klaus H. Donath

Für die Prominenz auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums gab es diesmal eine Menge Neues zu lesen. Denn: Heroische Selbstverpflichtungen zur vorfristigen Übererfüllung des Plans fehlten völlig. Sie hätten gestern angesichts der miesen Versorgungslage auch nur noch lächerlich gewirkt.

Der 1. Mai begann sonnig in Moskau, trübte sich dann aber gegen Mittag zunehmend ein. Daran zumindest hat es jedoch nicht gelegen, daß dem diesjährigen Mai-Umzug die Ausgelassenheit und der Volksfestcharakter dieses traditionellen Feiertages in der Sowjetunion abgingen. Dabei hatten die offiziellen Stellen alles getan, um dem Volk den Eindruck zu vermitteln, es handele sich wirklich um seinen Festtag. Anders als sonst hatten sich Staat und Partei aus den Vorbereitungen zurückgezogen und den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Organisationen das Terrain überlassen. Nicht einmal auf dem Roten Platz meldete sich die Führung aus Partei und Staat zu Wort. Unter den Zuschauern Lukjanow, Ministerpräsident Ryschkow und Superpräsident Gorbatschow. Sie hielten sich zurück, während Gewerkschafter die Massen einstimmen wollten. Da war auch immer mal wieder von „internationaler Solidarität“ die Rede, doch bewegt die Partei und ihr Umfeld heute der Erhalt der imaginären Einheit des Volkes mehr als die Übung in Internationalismus. Einheit ist heute wieder eine Utopie. Und da sich mit Utopie in der SU keine Stimmen mehr gewinnen lassen, trug man dem in einem Punkt zumindest ansatzweise Rechnung: Gewöhnlich waren die Marschrouten der Werktätigen geschmückt mit den Flaggen der Unionsrepubliken. Diesmal wechselte man sie aus gegen einfache Stoffahnen in zartem Türkis, Rot und Blau. Dafür hingen über der Gorkistraße, die auf den Roten Platz führt, Tafeln im gleichen Farbton, die nicht mehr einklagten als „Eintracht“, „Einigkeit“ und „Demokratie“ - zurückhaltend, aber dennoch Beschwörungsformeln. Die Dominanz des Roten ist schon jetzt aus dem Straßenbild gewichen. Wer für diese „salomonische Entscheidung“ verantwortlich zeichnet, meinte die 'Komsomolzkaja Prawda‘ gestern ironisch, läßt sich nicht ausmachen.

Daß Volksfeststimmung sich nicht so recht einstellen wollte, liegt nicht nur an der schlechten materiellen Lage obwohl auch diese gestern wieder deutlich wurde. War in den Vorjahren für die Marschierer immer noch etwas Besonderes in die Geschäfte geschafft worden, gingen sie diesmal mit leeren Taschen nach Hause. Eine generelle Politikmüdigkeit hat die meisten wieder befallen. „Nichts bewegt sich wirklich“, lautet ihre Haltung, und die Enttäuschung über Gorbatschow ist in den letzten Wochen nach der Besetzung seines Präsidialrates mit vornehmlich zentristisch -konservativen Kräften stark gewachsen.

In der Kolonne, die vom weißrussischen Bahnhof in Richtung Kreml lief, meldeten sich immer wieder Sprechchöre: „Weg mit dem Präsidialrat“ oder: „Gorbatschow, wir vertrauen dir nicht mehr“. An der Spitze dieses Zuges, des radikalsten, marschierten die beiden Staatsanwälte Gdljan und Iwanow, die sich vor Gericht gerade wegen angeblicher Verfehlungen bei der Untersuchung von Korruptionsvorwürfen der Nomenklatura zu verantworten haben. Ihr Hauptgegner ist der Konservative Ligatschow. Hinter den beiden Rechtshütern marschierte ein Pope mit einem mannsgroßen Kreuz. Er hatte es sich allerdings leicht gemacht. Kreuz und Sünder waren aus Pappe.

Befremdend wirkte in dieser Kolonne, in der hauptsächlich Vertreter unabhängiger Bewegungen und des Demokratischen Rußland mitliefen, das Bedürfnis nach alternativen Führungsfiguren. Jelzin, Jelzin über alles. Ohne Volkstribunen kommt man anscheinend nicht aus. Aber Witz bewiesen einige der Demonstranten schon. Auf Buttons teilten sie dem Präsidenten mit: „Gorbatschow, das Geld Ligatschows hab‘ ich gefunden“. Die Anfangsbuchstaben dieses Satzes fügen sich zum Namen „Gdljan“.

Noch am Sonntag hatte die Moskauer Gewerkschaftsleitung auf den veränderten Charakter des Umzugs hingewiesen. Die „Majewzi“ sollten wieder belebt werden - eine Tradition aus den ersten Jahren der Revolution. Politisierend und diskutierend, der Wodka fehlte dabei natürlich nicht, zogen die Arbeiter damals ins Grüne. Heute blieben die, die gekommen waren, nüchtern - und daran ist nicht nur der teure Wodka schuld. Auch an den Rändern tat sich wenig. Schaulustige gab es zwar, hier und da verkauften einige unabhängige Gruppen ihre Zeitungen. Unter ihnen auch ein Streikkomitee aus dem Kusbass-Becken. Reißenden Absatz fanden sie allerdings auch nicht. Sie mußten sich sogar „Spekulanten“ schimpfen lassen. Ein Rubel pro Exemplar war den meisten zuviel. Doch ließ der Arbeiter diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen: „Es gibt nur einen Spekulanten im Land, die Regierung“, konterte er ärgerlich.

Als die letzten Reihen der Maimarschierer auf den Roten Platz kamen, hatte die Prominenz die Tribüne schon verlassen. Das wollte sie sich wohl nun doch nicht antun denn das Zugende bildete die neue Liberaldemokratische Partei, und vor ihr lief ein rotschwarzer Block auf den Platz unter der Losung: „Weg mit dem Imperium des roten Faschismus“! „Für eure und unsere Freiheit!“ Das wäre auch für den gutwilligsten Zentristen das Ende der Fahnenstange gewesen.