Feeling von Abenteuer und Gemeinsamkeit

■ Erleichterung im Kreuzberger Kiez, daß der 1.Mai diesmal glimpflicher ablief als 1989 / Für viele ImmigrantInnen ist die Gewalt ein vereinigendes Moment / „Wir leben nicht in einer Ghandi-Gesellschaft“

Nichts erinnerte gestern nachmittag in Kreuzberg an die Randale der vorausgegangenen Nacht. Der Kiez lag schläfrig in der Sonne, die Cafes waren überfüllt, die Menschen lagerten auf den Grünflächen und der Eiswagen klingelte durch die Straßen. Die nächtlichen Festnahmen, die Steinwürfe und Tränengaseinsätze rund um den Görlitzer Bahnhof schienen so alt wie der Schnee von gestern.

Tine, Kollektivmitglied im Cafe „V“ am Lausitzer PLatz ist erleichtert, daß die Auseinandersetzungen begrenzt und vor allem nicht vor der Haustür stattfanden. „Ein bißchen Randale war ja“, sagt sie, „das gehört einfach dazu zum 1. Mai. Da gibt es ein Abenteuerfeeling mit einem hohen Erwartungsdruck, da ist es völlig egal, wieviel Polizei und mit welcher Strategie, ein paar Spinner schlagen trotzdem zu.“ Insgesamt glaubt sie aber, daß die meisten Leute einfach keinen „Bock“ auf Randale hatte. „Der Tag war so schön, die Demo gut und das Fest mit Woodstockatmosphäre toll, warum soll man sich da kloppen.“ Sie ist überzeugt davon, daß Festefeiern im Kiez bald wieder möglich ist, „die Strategie der Politiker den Leuten klarzumachen, eh, das ist euer Kiez, laßt es heil“, greift.

Ähnlich argumentiert Ariane vom „Wirtshaus“ in der Wrangelstraße. Sie weiß, daß viele KiezbewohnerInnen rausgefahren sind, weil sie „keine Lust auf Bambule hatten“. Die Polizeipräsenz hat sicher einschüchternd gewirkt, „aber die Bullen waren so publikumsnah wie nie, die üblichen Schlachtvorbereitungen, Angriffsgeheul, Sirenengejaul und Schildertrommeln gab es nicht“.

Zentauris, ein seit achtzehn Jahren in Berlin lebender Grieche sieht das alles ganz anders. Er war die ganze Nacht dabei, weiß aber nicht genau, wer die Gewalt angezettelt hat. „Ich hoffe, daß die aggressive Stimmung von den Demonstranten ausgegangen ist, Gewalt ist zwar Scheiße, aber ohne die geht es nicht ab.“ „Die Stimmung gegen Ausländer wird immer schlechter, und auch untereinander werden die Zeiten härter.“ Die Randale begreift er als Einigungsplattform für die AusländerInnen. „Erst nach der Straßenschlacht am 20. April haben sich türkische und kurdische Jugendliche zusammengetan, um gegen die Skins gemeinsam zu kämpfen.“ Randale müsse sein, begründet er sein eigenes Mitwirken, mit Unterschriften gegen Ausländergesetze ist nichts getan, „die Leute sind doch taub“. Ein in der Türkei geborener junger Pizzaverkäufer an der Skalitzer Straße schließt sich an: „Auf Bullen nehme ich keine Rücksicht mehr, die verteidigen doch die, die aus meiner Imbißbude einen Videoshop für Ostler machen wollen.“ Gegen die Kommerzialisierung des Viertels hat er sich gestern gewehrt. Es ist ihm egal, daß die Gewalt kein spontaner Ausbruch war, „ich wollte einfach zeigen, daß ich gegen all die neue Nationalkacke bin, alle reden von der DDR und keiner mehr von Kreuzberg“. Die wenigen abgefackelten Autos in der Wiener Straße sind „doch nur Sachschaden, die aus der Portokasse der Versicherungsgesellschaften bezahlt werden. Im übrigen meint er, daß wir doch „nicht in einer Ghandigesellschaft leben, sondern im Gegenteil, in einer immer aggressiver werdenden Stadt“. „Die Politiker reden jetzt vielleicht darüber, ob der Polizeieinsatz richtig war oder nicht; wie aber kriegen wir den Sitzplatz in der U-Bahn wieder, von dem uns die neuen Deutschfühlenden vertreiben“.

aku