Dürfen wir Gorbatschow noch helfen?

Andre Glucksmann zum Moskauer 1. Mai und zur Gorbimanie in der Politik  ■ D O K U M E N T A T I O N

Gorbatschow muß geholfen werden. Natürlich. Aber wobei muß er unterstützt werden? Haben wir noch das Recht, ja: die intellektuelle Pflicht, diese Frage zu stellen, oder müssen wir - als gute „Gorbimanen“ - solch Fragen für gotteslästerlich halten und als Angriff auf den Weltfrieden verdrängen? Laßt uns Gorbatschow unterstützen, so erklären es wie aus einem Mund Li Peng, Bush, Kohl und Mitterrand. Wetten wir, daß diese heilige Allianz nicht länger dauert als die Rosen.

Außer in seinem eigenen Land, wo er im Volk noch nie so umstritten war wie heute, wächst die ihn umgebende Verehrung des sowjetischen Präsidenten überall. Den Vogel schoß am 1. Januar eines der Flaggschiffe der Vierten Gewalt - oh heilige Information - ab: der 'Spiegel‘, dessen Herausgeber Rudolf Augstein davon überzeugt ist, nach eigenem Gutdünken Kanzler zu machen und wieder absägen zu können. Er griff also zu seiner schönen Neujahrsfeder und stellte fest, daß die Menschheitsgeschichte in zwei geteilt sei: von Alexander dem Großen bis zu Gorbatschow war es die Ära der Kriege und der Revolutionen. Von nun an jedoch herrsche Frieden und äußere wie innere Konflikte würden sich im Gespräch, durch Verhandlung lösen, wobei die Großen den Wallungen der Kleinen Disziplin auferlegen würden. Solcherart ist Michail nicht mehr nur der Mann des Jahres und des Jahrzehnts, nein, er wird zum Erzengel, zum Sendboten des Millenariums. Von diesem Gesichtspunkt aus also kein Zögern: wir müssen, koste es was es wolle, den höchsten Retter retten!

Die demokratischen Gewerkschaften Frankreichs sonnen sich noch in dem Ruhm, daß sie einst Walesa und Solidarnosc die Hand gereicht haben. Aber selbst am 1.Mai ignorieren sie sorgsam jene Bergarbeiter aus Kusbas und vom Dombas, die äußerst lange und aufrechte Streiks für das Mehrparteiensystem führten (und noch führen werden). Für sie begeistern sich in Rußland die Intellektuellen und der Mann auf der Straße; bei uns wird der Mantel des Schweigens über sie gebreitet. Der russische Bergarbeiter kämpft für „bürgerliche“ Freiheiten - und diese große Premiere entgeht unseren Aktivisten, die Augen nur für den Kreml haben.

Arme Balten! Sie sind zu spät gekommen. Mehr als 100 Millionen Europäer revoltieren seit sechs Monaten. Die BRD ist gänzlich mit der DDR beschäftigt. Vilnius wird nicht mehr lange auf der Seite 1 der Zeitungen stehen. Sie sind auch zu früh gekommen: als vorübergehende Avantgarde der zentrifugalen Zersetzung, von der die gesamte UdSSR erschüttert wird. Wer hätte die Naivität haben können, zu glauben, daß die emanzipatorische Bewegung der europäischen Völker vor den Toren der Sowjetunion haltmachen würde, vor jenen Grenzen, die von Stalin gezogen wurden? Wer trauert denn nachträglich den türkischen, österreich-ungarischen, britischen oder französischen Reichen hinterher? Der Sturz großer hegemonialer Komplexe bringt den Völkern, die ihn auslösen oder zu erleiden haben, selten Glück; aber nichtsdestotrotz entwickeln Zersetzung und Dekolonisierung, wenn sie erst einmal in Gang gekommen sind, eine Eigendynamik, die von den Politikern manchmal gedämpft und kanalisiert, aber niemals aufgehalten werden kann.

Eilt Gorbatschow zu Hilfe, solange ihr wollt - aber tut nichts, um das Sowjetreich zu retten! Je mehr eine wohlmeinende Diplomatie am Mythos seiner Unauflösbarkeit mauert, desto plötzlicher und brutaler wird sein Zusammenbruch sein. Wirkliche Hilfe für Gorbatschow hieße, ihn zu ermutigen, den Gerümpelhaufen, den er regieren soll, einfach in die Luft zu sprengen. Aber nicht: ihn in der Illusion zu belassen, daß er noch bis in alle Ewigkeit ein von den roten und weißen Zaren zusammengeschustertes Chaos beherrschen würde.

„Schufte, wohin habt ihr dieses Land geführt?“, „Die ganze strahlende Zukunft gegen ein Bier“ - Sticker mit solchen Parolen blühen an den Brüsten der Moskowiter. „Das ist ein verdammtes Land“, trällern die Gassenhauer. „Ich hätte niemals geglaubt, daß ein derartig tiefer Haß gegen die entstehen könnte, die das Land seit 1917 regiert haben“, schreibt Vadim Kozovoi nach einem Aufenthalt von mehreren Monaten in seiner ehemaligen Heimat. „Ich könnte sie alle mit eigenen Händen erwürgen“ - der Mann, der ihm dies gesagt hat, ist kein Einzelfall. „Der Haß geht mit dem Gefühl einher, daß das Desaster unaufhörlich größer wird, mit jedem Tag.“ Rußland ist ein immenser Müllhaufen: Ruinen, Abfälle, Schlamm und Schmutz türmen sich aufeinander. „Dem Gesundheitssystem fehlt es an allem... Dazu kommen die ökologischen Katastrophen, der generalisierte Alkoholismus, die sprunghaft zunehmende Kindersterblichkeit, der erschreckende Anteil an debilen Kindern“, und er fährt fort: „Die Presse schreibt den Verfall offen den 72 Jahren Sowjetherrschaft zu.“

Nicht die Verwüstung ist das Neue. Es ist das umfassende Bewußtsein, das die Sowjetbürger von ihr bekommen. Seit Tschernobyl liegt die Schlamperei vor aller Augen, aller ihrer Mysterien enthoben. Die Glasnost-Transparenz war ein fast vollständiger Erfolg. Doch die Perestroika, der Umbau ist ein leeres Wort geblieben, Zeichen ihres kompletten Fehlschlags. Die Wirtschaft geht den Bach hinunter, die Nomenklatura hält sich wacker, der parasitäre Apparat reformiert sich nicht und festigt seine Privilegien. Die Übel werden beim Namen genannt und genauso im Fernsehen gezeigt wie die Unfähigkeit, einen Ausweg zu finden.

Wenn die westlichen Regierungen dem Status quo und einer mystischen Perestroika zu Hilfe eilen, gehen sie das Risiko ein, Gorbatschow eben das opfern zu lassen, was seinen Ruhm und seinen Verdienst ausmacht: die Glasnost, den Beginn der Demokratisierung. Die Druckereien von Vilnius, die auf seinen Befehl von der Roten Armee besetzt worden sind, beliefern nicht nur die litauischen Zeitungen, sondern auch die kritischen und respektlosen Publikationen diverser Vereinigungen, Dissidenten, Autonomisten, Reformer, Demokraten und Liberale im gesamten Gebiet der Union. Vorsicht! Wenn die Reflektoren zerschlagen werden, können Straßen schnell zu tödlichen Fallen werden.

Übersetzung: smo

Der Ex-Studentenführer und zum Anti-Totalitaristen geläuterte Maoist verfügt seit einiger Zeit über eine feste Kolumne im konservativen 'Figaro‘. Dessen gestriger Ausgabe entnahmen wir folgenden Kommentar.