Mühsal der Ebene

Der Besuch des Bundespräsidenten in Polen  ■ K O M M E N T A R E

Der Besuch des deutschen Bundespräsidenten v. Weizsäcker in Polen findet auf einem Terrain statt, das gleichzeitig leichter begehbar und unwegsamer geworden ist. Die große Mehrzahl der Westdeutschen und fast alle DDRler sind jetzt mit der endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze einverstanden - jede andere Position würde die deutsche Einheit unmöglich machen. Vorbei ist insbesondere die Zeit der Junktimversuche, mit denen Kohl die Bekräftigung der Grenzen an einen Minderheitenvertrag und den Verzicht auf die Forderungen der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter koppeln wollte. Vor v. Weizsäcker liegt jetzt die „Mühsal der Ebene“, Arbeit für Normalität in den Beziehungen der beiden Völker und Gesellschaften. Diese Aufgabe ist seit dem 1. September letzten Jahres, dem ursprünglichen Besuchstermin, noch schwerer geworden.

Polens Arbeiter, die in einer international komplizierten Lage 1980 mit der Gründung von Solidarnosc mutig vorangegangen sind, fühlen sich heute - nach der Kette demokratischer Umbrüche in Osteuropa - zu wenig anerkannt, ja vernachlässigt. Sie ertragen die Last der Austeritätspolitik, erwarten aber vom Westen, insbesondere von der BRD spürbare Hilfe. Es spricht für v. Weizsäcker, daß er hier mehr zu bieten hat als klug abgewogene, unverbindliche Absichtserklärungen. Er fordert, die Zinsen für die Auslandsschulden herabzusetzen und schrittweise den subventionierten Rückkauf von Schuldtiteln in Zloty zu ermöglichen. Er setzt sich für neue Kredite und für private Investitionen ein. Was für Mexiko in Gang gesetzt wurde, sollte auch für Polen möglich sein.

Schwerer tut sich v. Weizsäcker mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Anwürfe und Vorurteile, die heute das alltägliche Verhältnis zwischen Deutschen und Polen belasten. Wenn v. Weizsäcker mahnt, die Befreiung von diktatorischem Zwang dürfe nicht zur Wiederbelebung leidvoller nationaler Gegensätze führen, so hebt er einseitig auf den Ausbruch von Fremdenfeindlichkeit ab, der die DDR seit Ende letzten Jahres heimsucht. Was rund um die Westberliner Kantstraße über „die Polen“ gedacht wird, kann man nicht mit Sätzen verharmlosen wie dem im 'Spiegel' -Interview: „Umgekehrt findet man in Berlin nicht nur Zuneigung für einen ständigen Schwarm von polnischen Handelsreisenden.“ Es geht nicht um Sympathien für die polnischen Kleinhändler und die oft unerfreulichen Begleiterscheinungen ihres Aufenthalts in West-Berlin. Es geht darum, daß gegen die polnischen Besucher eine bösartige Kampagne läuft - übrigens auch seitens des 'Spiegels‘. Einige menschenfreundliche Maßnahmen könnten die Atmosphäre entlasten - z.B. die Rücknahme der Bestimmung, wonach Visa in die BRD nur bei Nachweis von 50 DM pro Aufenthaltstag erteilt werden. Der Bundespräsident hätte gut daran getan, sich hierfür zu verwenden.

Daß zu Zeiten der tiefsten ökonomischen Krise die Paketsendungen vieler Westdeutscher den Menschen in Polen nicht nur halfen, sondern auch eine Reihe von Freundschaften stifteten, ist unbestreitbar. In der Zwischenzeit haben aber allzu viele Polen, die zur Arbeit bei uns waren, Überheblichkeit, Paternalismus und kleinliches Feilschen bei ihren Auftraggebern kennengelernt. Sie haben zwar in Monatsfrist mehrere Zloty-Jahresgehälter verdient, aber oft sind ihnen die Deutschen deshalb nicht angenehmer geworden.

Der Bundespräsident könnte durch einen Akt des politischen Nonkonformismus in Warschau nachhaltig die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland verbessern. Er könnte sich dafür einsetzen, daß die im Zweiten Weltkrieg in Deutschland ausgebeuteten Zwangsarbeiter doch noch entschädigt werden. Eine solche Geste würde den Polen zeigen, daß wir auch ohne politische Opportunität großzügig, vor allem aber gerecht handeln können. Aber wie es aussieht, wird diese Hoffnung vergebens sein.

Christian Semler