Die Roma - zweitgrößte Minderheit

Knapp sechs Wochen sind seit der Eskalation der Konflikte zwischen Ungarn und Rumänen in Tirgu Mures vergangen. Noch immer steht das Militär vor dem Rathaus. Auch die mitgliederstarke nationalistische Organisation „Vatra Romaneasca“ („Rumänische Heimstätte“) ruft noch immer zum Kampf gegen die beiden größten Minderheiten im Land auf, die Ungarn und die zwei Millionen Roma, die „Zigeuner“.

Ein Ende der Spannungen ist nicht absehbar, denn „Vatra Romaneasca“ kandidiert auch zu den Wahlen am 20.Mai. Die Chauvinistenbewegung will den Sicherheitsapparat und die nationalrumänische Dominanz wiederherstellen. Wie dies konkret aussieht, geht aus Berichten von Roma hervor, die vor kurzem von Vatra-Romaneasca-Anhängern heimgesucht wurden.

„Es war wie vorher“, berichtet eine Frau in einem Viertel ungarischsprachiger Roma von Tirgu Mures. „Dieselben Polizisten“ seien drei Tage nach Ende der Unruhen ins Viertel gerast, hätten sie im alten Stil gedemütigt und eine Liste von 70 Leuten bei sich gehabt. Sieben Männer, die sich zuvor an einer Demonstration beteiligt hatten, hätten sie sofort verhaftet.

Ein Mann erzählt, daß er mit einem Messer am Hals eine Aussage unterschreiben mußte. Auf seinem Entlassungsschein steht zu lesen, daß er - wie alle Männer aus dem Viertel nach dem berüchtigten „Dekret 153“ aus dem Jahre 1970 verurteilt wurde. Dieses Dekret Ceausescus sieht Schnellverfahren und Gruppenverurteilungen von „sozialen Parasiten“ ohne Berufungsmöglichkeit vor. Nun wird es einzig auf Roma angewendet. Damit werden der Öffentlichkeit innerhalb kürzester Zeit vermeintlich Schuldige und die Effektivität der Sicherheitsorgane präsentiert.

In den Stadtvierteln haben die Roma deshalb kleine Komitees zur Aufklärung der Sachverhalte gegründet. Es ist das erste Mal, daß sie sich gemeinsam aufmachen, um ihre Rechte zu verteidigen.

Eine eigenständige Ethnie

Jahrhundertelang war die eigenständige Ethnie der Roma in Leibeigenschaft gehalten worden, bis diese in den altrumänischen Fürstentümern Moldau 1855 und Walachei 1856 aufgehoben wurde. Zahlreiche Familien wanderten in andere europäische Länder und nach Amerika aus. Nach dem Beitritt Rumäniens zum Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan wurden Juden und Roma systematisch verfolgt. 36.000 Roma wurden ab 1942 umgebracht.

Während nach 1945 vor allem für Ungarn und Deutsche eine kurze Phase konstruktiver Nationalitätenpolitik einsetzte, blieben die Roma, die dritte große Minderheit im Land, ohne jegliche kollektive Anerkennung. Statt dessen sahen sie sich weitreichenden Zerstörungen ihres kulturellen und sozialen Gefüges ausgesetzt. So wurden die reisenden Roma zwischen 1952 und 1956 in der rumänischen Region Baragan zwangsweise angesiedelt. Bis Mitte der 60er Jahre führten die Behörden die Zwangsseßhaftmachung vor Ort weiter.

„Sie kamen fast immer nachts, mit Hunden und Scheinwerfern, manchmal paramilitärisch ausgerüstet“, berichtet Nicolae Gheorghe, Roma und Soziologe an der Universität Bukarest, über die Golddiebstähle, die Miliz und Securitate während der gesamten Herrschaftszeit Ceausescus an einer kleinen Romagruppe begingen. Das Gold, in Münzenform eine traditionelle Wertanlage für die Roma, floß in Ceausescus Bauprojekte. „Sie brachen in die Häuser ein, verprügelten Männer, Frauen und Kinder. Dann nahmen sie die Männer mit auf die Wache und setzten sie so lange unter Druck, bis diese nach ihren Frauen mit dem Gold schickten. Viele sind bei diesen Razzien zu Tode geprügelt oder erschossen worden.“

Mit dem Ende der Diktatur Ceausescus hat sich die Situation der Roma teilweise verändert. War ihnen zuvor jede Form der Selbstorganisation untersagt, so sind sie jetzt aktiv am politischen Prozeß beteiligt. Innerhalb kurzer Zeit haben sie eigene Parteien begründet: die Demokratische Partei der freien Roma, in der ungarischsprachige Roma aus Siebenbürgen vertreten sind, die Partidul Tziganilor, eine Partei der Romamusiker, sowie zahlreiche lokale Vereinigungen. Die Parteien werden für die Wahlen am 20.Mai eigene Kandidaten aufstellen. Einen Ausgleichsversuch zwischen demokratischen Prinzipien und traditionellen Autoritätsstrukturen unter den Roma unternimmt derzeit die Demokratische Union der Roma, die analog zu den Demokratischen Unionen anderer Minderheiten einen Dachverband aufbauen möchte. Ihre Forderungen lauten: Anerkennung der Roma als ethnische Minderheiten oder Nationalität; selbstverwaltete Kulturzentren; Sendezeiten im Fernsehen und Radio auf Romanes; Einrichtung einer interministeriellen Kommission, die sich mit den drängenden Problemen der Roma wie der Armut oder dem fehlenden Gesundheits- und Bildungswesen befaßt.

Die größeren Freiheiten haben jedoch auch Kehrseiten. In einer Pressekampagne Anfang des Jahres wurden die Roma zum Inbegriff des Bösen - Diebe, Securitatespitzel - stilisiert. Die Roma seien „Opfer interethnischer Spannungen“, sagt der Soziologe Gheorghe, Mitglied im Expertengremium der Minderheitenkommission in Bukarest. „Auf dem Rücken der Roma versucht die Polizei ihre Legitimation als nötige Ordnungsmacht wiederzugewinnen.“

Katrin Reemtsma