Anwohner kämpfen gegen Asphalt-Kids

■ Auf der Freifläche des Blocks 128 kräht der Hahn zum Frühstück - doch Anwohner bekommen Angst: Jugendliche prügeln sich, zündeln und quälen Ziegen / Die letzte Abenteuerfläche für Charlottenburgs Großstadtkinder soll nun unter Kontrolle

Charlottenburg. Vier Wannen - Mannschaftswagen der Polizei verstopfen die schmale Danckelmannstraße. Vor ein paar Minuten hatte sich hier vor den Häusern 16 und 17 lediglich ein halbes Dutzend türkische Berliner Jugendliche getroffen. Doch eine Anwohnerin beobachtete, daß „sie Joints rauchten und dann Kung Fu kämpften“. Als ihr Freund wegen des Lärms genervt aus dem Fenster brüllte, motzten die Jugendlichen provozierend zurück: „Komm doch runter, du Türkenhasser“. Die Antwort war Blumenwasser aus dem Fenster. Die feucht Vertriebenen setzten sich erst einmal verärgert auf die Motorhaube der nächstbesten Blechschüssel. Beulen gab es nicht, aber eine andere Nachbarin rief die Polizei: „Hier sind welche, die demolieren Autos.“

Der Polizeieinsatz von letzter Woche ist nur ein Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen einigen Anwohnern des Blocks 128 und „herumlungernden“ Jugendlichen. Besonders die Mieter in den beiden Häusern Danckelmannstraße 16 und 17 werden zunehmend auf die Kiez-Kids wütend. Denn nur durch die beiden Gänge ihrer Häuser kommen die Teens und Twens auf die ungepflegte und ein wenig verwilderte Freifläche im riesigen Hinterhof - und dort soll es von Tag zu Tag lauter und brutaler zugehen.

Lärm - von 7 bis 22 Uhr

Über die Osterfeiertage Mitte April tobten über 60 Kinder auf der Freifläche zwischen Ziegen, Hühnern, Gänsen und einer Baustelle, berichtet Anwohner Terence H. (42). Der Krach soll morgens um sieben Uhr angefangen haben und erst abends um zehn Uhr wieder erstummt sein. Nachbarn riefen deshalb die Polizei.

Gleichaltrige und Ältere aus der Umgebung hätten das „Hausrecht erworben“ und würden dies mit Steinwürfen und Knüppelschlägen verteidigen, erzählt Anwohnerin Myroslawa W. (34). Und mit den Eltern könne sie auch nicht reden. Als letztens eine Mutter abends um zehn Uhr „angetorkelt kam und ihr Kind nach Hause schrie“ und Myroslawa W. einmal die Mutter ansprach, sei sie von der Angetrunkenen unfreundlich abgefertigt worden.

„Früher war es Spiel, jetzt ist es Aggression“, beschreibt die 35jährige Monika B. aus der Danckelmannstraße die Entwicklung der Drei- bis Zwanzigjährigen. Frei herumlaufende Gänse und Hühner werden zu flatternden Zielscheiben befreiender Steinwürfe, und die Geißlein im kleinen Ziegengehege müssen sich ab und zu durch die Gegend schleudern lassen - der Bock hielt schon einmal für Tränengas-Versuche her. Die Kids klettern auch gerne auf der Baustelle einer Remise, dem ehemaligen Hinterhofstall. Von dort klauen sie auch Bretter, aus denen sie sich kleine Hütten bauen, die sie wieder abbrennen, wenn es ihnen langweilig geworden ist. Wenn Erwachsene eingreifen wollen, laufen sie weg.

Rache mit Videokamera

Seit neuestem steht Terence H. auf seinem Balkon im dritten Stock und filmt die Tierquälerei, den Holzklau, die Brände und die folgenden Feuerwehreinsätze mit Videotechnik. Die selbstgedrehten Fernsehkassetten bestätigen dann sichtbar den „rechtlosen Zustand“ unterm Balkon. Und doch hat das Filmen für ihn und seine Frau Christel noch einen ganz anderen Sinn: Wenn die 10.000 Quadratmeter große Freifläche nicht mehr unter Kontrolle der Erwachsenen steht, dann wollen die gedemütigten 30- und 40jährigen sich wenigstens an den unbeugsamen Gören rächen, zeigen, daß sie nicht entkommen können. Die selbstgebauten Hütten werden so zu einem noch viel größeren Schutz vor einer kinderfeindlichen Welt, in der Erwachsene alles kontrolliert und geregelt wissen wollen.

Eine Berliner Tageszeitung berichtete in ihrer letzten Wochenendausgabe sogar, daß die „wilden Hütten von keinem Erwachsenen betreten werden dürfen“. Mißtrauisch würden die Kinder aus dem Kiez „auf jeden fremden Besucher reagieren, der versucht, in ihre Welt einzudringen“. Doch die 16jährige Yasmin ist nicht mißtrauisch, sondern ausgesprochen mitteilungsbedürftig. Sie zum Beispiel kommt auf die Freifläche im Block 128, „weil auf unserem Hof sich die Bewohner ärgern“, die 12jährige Melanie, „weil meine Mutter froh ist, wenn sie mich vom Hals hat“. Und sollten die Zugänge zur Freifläche abgeschlossen werden, „dann würde ich rüberklettern“, kündigt Yasmin schon mal vorsorglich an. Doch wofür lohnt sich das Rüberklettern?

Der 14jährige Bobbi kommt „wegen den Hütten hier“. Woanders dürften sie Hütten nicht bauen. Warum sie die Holz-Höhlen immer wieder anzünden, kann er nicht erklären, aber der 17jährige Thomas verweist stolz auf „den Rekord“: Drei Monate habe eine Hütte einmal vor den Flammen bestanden.

Guck dir mal die Hütte an

Kein Wunder, daß die Freifläche für die Kids die letzte freie Fläche im zugebauten Charlottenburg ist. Anwohner und Eltern möchten die Nachkömmlinge zwar gerne auf den Klausener Platz vis a vis des Charlottenburger Schlosses abschieben, doch Melanie findet, daß dort „so viel los ist und es so langweilig ist“. Yasmin fragt, was sie denn am Klausener Platz „auf dem Spielplatz“ sollen? „Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr.“ Melanie schlägt vor, daß „die ja auch mal einen Spielplatz für Große bauen können“ - mit Hütten und Gerüst zum Hochklettern. „Aber das erlauben uns die Erwachsenen ja nicht“, deshalb würden sie auch hier auf der Baustelle der Remise herumturnen.

Daß sie dann von Terence H. gefilmt werden, finden sie „beknackt“: „Wie sollen wir denn hier in Ruhe spielen können, wenn da oben einer hockt?“ Prügeln, Tiere ärgern und Holzklauen - Spiele? „Ja, das sind unsere Spiele“, sagt der 15jährige Brian. Dann holt M.-C. Eric (12), den seine Eltern Stefan rufen, eine weiße Ratte aus der Holzhütte, streichelt sie und setzt sie dem überraschten taz-Reporter auf die Schulter. „Komm, guck dir mal unsere Hütte an!“, fordert M. -C. Eric. In der Hütte ist es trotz Sonnenschein stockduster, es gibt kein Fenster, und sie ist völlig leer.

Betreuung mit Bauwagen

Wenn die abenteuerlustige Jugend nicht hinter den Häusern des Block 128 tobt, drückt sie die Schulbank, sonst „sind wir immer hier“, erzählt der 14jährige Dragan, der gekonnt mit einem Messer spielt. Der 14jährige Taifun, der ununterbrochen mit einem Stahlrohr auf einen Sperrmüllsessel einschlägt, geht ab und zu aber auch „schwimmen, arbeiten, Hausaufgaben machen und Filme gucken“. Dragan erklärt, welche Filme: „Zombi-, Grusel-, Karate- und Porno-Filme“. „Aber nur die harten Pornos“, gibt Brian an: „Wo sie's richtig zeigen, Votze lecken und blasen“. Taifun zündet unvermittelt ein Streichholz an, steckt ihn in das Loch einer Matratze, doch die kleine Flamme erlischt sofort.

Doch die Welt der coolen Kids besteht nicht nur aus brutalen TV-Fantasien. Von einem Betreuer der Ziegen haben sie sich für den „Ziegendienst“ einteilen lassen: Füttern, Wasser bringen und gucken, ob alles in Ordnung ist. Und an diesem Tag stehen viele kleine Kinder mit ihren Müttern vor dem Gehege der Klettertiere. Weil der taz-Reporter seinen Fotoapparat zückt, klettert auch Taifun rüber zu der Mini -Herde. Er fragt, ob er im Bild sei, hat die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schlendert gemächlich hin und her. Einen Moment lang kommt Taifun ohne Stahlrohr aus, hat seine Probleme vergessen.

Daß demnächst zwei Sozialarbeiterinnen einen eingerichteten Bauwagen auf den Platz rollen werden, überrascht die Kids nicht. Sie wollen nur wissen: „Was wollen die?“ Daß die beiden Frauen Werkzeug und Holz zum Bauen mitbringen wollen, beruhigt die kleine Gruppe. Nur Taifun protestiert: „Wir brauchen nichts zum Bauen, wir brauchen was zum Klettern.“

Dirk Wildt