Nicht wirklich zu Hause

■ Jean Rhys: Ein Abend in der Stadt

Es ist häufig ein Beweis besonderer literarischer Qualitäten, wenn die Kritik und das Lesepublikum einen Autor erst am Ende seiner Karriere wahrnehmen und ihn dann mit Erstaunen über die eigene jahrelange Unaufmerksamkeit in den Rang der großen Schriftsteller erheben. Solche Entdeckungen sind nicht selten, aber noch ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Texte, wie es so schön heißt, bei ihrem Erscheinen der Zeit weit voraus waren.

Genau dies trifft auf die 1890 geborene und Ende der siebziger Jahre verstorbene englische Autorin Jean Rhys zu. Der jetzt in der Bundesrepublik erschienene Erzählband Ein Abend in der Stadt bietet eine repräsentative Auswahl ihrer seit 1923 veröffentlichten Geschichten. Neben den Stories, in denen sie von ihren Kindheitserinnerungen auf den Antillen ausgeht, enthält die Sammlung vornehmlich Erzählungen, die das Leben der Künstler und der Boheme im Paris und London der zwanziger und dreißiger Jahre zum Thema haben: Immer handelt es sich aber auch um die bewegten Biographie der Schriftstellerin selbst, die nach einer gescheiterten Ehe mit einem holländischen Journalisten und nach einem Schwangerschaftsabbruch zeitweise in den dreckigsten Hotels wohnen muß, um sich als Mannequin, Verkäuferin oder Kindermädchen durchzuschlagen.

Auf jeder Seite spürt man, daß alles Erzählte und jedes Figurenschicksal in hautnahem Kontakt mit den Erlebnissen und Erfahrungen von Jean Rhys stehen - dennoch ist es eine Prosa, in der das allzu Persönliche durch die kurze und lakonische Sprache nie Gefahr läuft, sich im Privaten und Anekdotischen zu erschöpfen. Nichts ist synthetisch oder trockene Schreibtischarbeit. Selbst die frühen Texte über die Zeit, bevor sie mit sechzehn Jahren nach England kommt, erzählen die „gebrochene“ Geschichte einer immer auch schmerzlich empfundenen Außenseiterrolle.

Die Wirklichkeit ihrer Kindheit ist die im gleichzeitig behüteten, aber auch arroganten Schoß des britischen Weltreichs, dessen way of life ihre Lebensjahre in den karibischen Kolonien bestimmen: „Ich hatte es ebenfalls satt, Gedichte zum Lob der Narzissen auswendig zu lernen. (...) Ich hatte entdeckt, daß, wenn ich mich als Engländerin bezeichnete, sie mich arrogant zurechtwiesen: 'Du bist keine Engländerin, du bist eine widerliche Kolonistin.'“

„Es war noch im neunzehnten Jahrhundert“, so einfach und ohne große Umschweife findet man sich im ersten Teil des Sammelbandes im Süden des englischen Commonwealth wieder. Leuchtende Turbane, weiße Sonnenschirme, glühendheiße Mittage und vor allem immer das Maß der feinen englichen Art machen die Atmosphäre dieser zwiespältigen Karibik -Erinnerungen aus; doch gleich, ob in Der Tag, an dem sie die Bücher verbrannten oder in Pioniere, Pioniere, in der geschildert wird, wie der neu zugereiste Gentleman Mr. Ramage („ein König unter den Männern“) unter der drückenden Schwüle des exotischen Inselklimas langsam seinen Verstand verliert - Rhys spürt dem Schicksal der Außenseiter und Ver -Rückten nach, die „zwischen den Welten“ leben.

Sie, die mit einem wallisischen Vater und einer Kreolin als Mutter beständig das Stigma einer nicht lupenreinen britischen Herkunft mit sich herumgetragen hat, ist geradezu prädestiniert für eine Lebenserfahrung jenseits der etablierten Wege. Rhys kann daher auch ihre Jugendjahre auf der Karibik-Insel Dominica nur von Figuren spielen lassen, die hier nicht wirklich zu Hause sind: „Immer wenn das Thema aufkam - die Verwandtschaftsverhältnisse der Leute (...) wurde mein Vater ungeduldig und fuhr dazwischen: 'Wer ist schon weiß?‘ sagte er dann. 'Verdammt wenige.'“

Der Wechsel zu den Großstadt-Erzählungen von Paris und London im zwanzigsten Jahrhundert wiederum erscheint bruchlos: die Zwänge des psychischen (Über)Lebens stellen sich besonders den bar jeder traditionellen Absicherung lebenden weiblichen Hauptfiguren - Mannequins und Revuetänzerinnen, die von Show zu Show tingeln - als Zwang zum Erfolg inmitten einer von Männern regierten Gesellschaft dar.

So wird der Leser in Kismet zunächst in den harten Tournee-Alltag der beiden Variete-Künstlerinnen Norry und Billie eingeführt; nach wenigen Seiten allerdings sieht er sich unversehends in eine hochaktuelle Auseinandersetzung um das traditionelle Rollenverständnis von Frauen hineingeworfen, die heute noch unverändert besteht. Billie, die das unabhängige Leben aus dem Koffer satt hat und sich bewußt für ein Kind entscheidet, steigt aus der laufenden Tournee aus, um in das bürgerliche Hausfrauendasein fliehen zu können: „Alles schön und gut, aber ich kann dir sagen, eines kann ein Baby ganz bestimmt. Du hörst auf, dich zu fragen, warum du überhaupt lebst. Du weißt doch, wie deprimiert man manchmal ist. (...) Mit einem Baby hörst du auf, so zu denken.“

Die Teestunde zwischen den beiden Freundinnen, die sich seit über einem Jahr nicht mehr gesehen haben, wird für Norry zur Gewissensfrage ihres eigenen unsteten Lebensstils: mehr noch zum Bedürfnis, sich ihre Ängste über das Alleinsein und über die Existenz außerhalb der Konventionen von der Seele zu reden. Doch Verständigung zwischen den beiden ist längst nicht mehr möglich, die Kluft ist zu groß geworden. Norry, oder besser, Jean Rhys, geht ohne Zögern zurück in ihr Hotel, um zu vergessen und um wieder einmal auf ihren Liebhaber zu warten: „Denn ein sentimentaler Gedanke bleibt ein sentimentaler Gedanke, wenn's je einen gegeben hat.“

Diese spannungsvolle Gefühlslage zwischen antrainierter Härte und sensibler Mitmenschlichkeit macht den genuin weiblichen Blick gerade der Frauenfiguren aus. Kein Wunder also, daß Jean Rhys heute in einem Atemzug mit den englischen Schriftstellerinnen Katherine Mansfield oder Charlotte Bronte genannt wird, denn Schreiben bedeutet nach wie vor Emanzipation und Selbstentwurf.

Ein Hauch des Zeitgeistes jener Jahre zwischen den Weltkriegen umgibt dann auch die Titel-Erzählung, die einen Ausflug in das frivole Nachtleben zum linken Seine-Ufer im Paris des Hemingway beschreibt: Ein Abend in der Stadt, 1925 tauscht die grelle Sonne der Karibik gegen das schummerige Licht irgendeines heruntergekommenen Amüsierlokals ein, wo junge Mädchen „in verschiedenen Stadien der Nacktheit“ die Gäste an den Tischen nicht nur zum Trinken auffordern. Suzie, die mit einem Freund hierher gekommen ist und sich als Frau zutiefst unwohl fühlt, bricht daraufhin einfach den unwürdigen (männlichen) Bann von Kaufen und Ware.

Sie steht auf, steckt den Animierdamen einfach fünf Pfund aus der Brieftasche ihres Begleiters zu und geht. Auch dies ist wohl eine Geste, die ihrer Zeit gerade heute weit voraus ist. Ein Grund mehr noch, die Erzählungen zu lesen.

Bernd Rasche

Jean Rhys: Ein Abend in der Stadt. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch, 16,80 DM.