Kein Kind von Traurigkeit

■ Daniel Spoto: Die Seeräuber-Jenny. Das bewegte Leben der Lotte Lenya

Das vielleicht bekannteste Foto von Lotte Lenya, aufgenommen 1930 in Berlin von Lotte Jacobi, zeigt sie als äußerst attraktive junge Frau mit sinnlichem, stark geschminktem Mund, großen, verführerischen Augen, schlanken, schönen Fingern, die die unvermeidliche Zigarette halten. Das Foto zeigt eine Frau, der man vieles zutraut: Star-Qualitäten, einen ausgelassenen Lebenswandel, Extravaganzen, Mondänität, erotische Ausstrahlung, Eskapaden, Bohemiantentum. All das traf auf die 1898 als drittes Kind eines Kutschers in Wien geborene Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer zu, nur ausgesehen hat Lotte Lenya, wie sie sich später nennen sollte, in Wirklichkeit ganz anders.

„Karoline Blamauer war (...) nicht hübsch - sie hatte eine blasse Haut, unscheinbares braunes Haar, eine große Nase, einen breiten Mund und einen ausgeprägten Überbiß“, aber, und das bescheinigen alle, die sie gekannt haben, die Frau mit dem „Pferdegesicht“, „hatte enormen Sex-Appeal“. Keiner konnte ihr widerstehen, erinnert sich ihre Freundin Gigi Gilpin, „es lag eben an ihrem Charme, und obwohl sie nicht sexy aussah, strahlte sie ganz eindeutig Sex aus, einfachen, puren Sex. Manche Frauen fühlten sich sexuell genauso zu ihr hingezogen wie manche Männer. Und sie hatte nichts dagegen.“ Lenya war Zeit ihres Lebens, was die körperliche Liebe anging, kein Kind von Traurigkeit.

Die Karriere der Lotte Lenya liest sich wie das Märchen von Aschenputtel. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wird sie schon als Kleinkind jeden Tag von ihrem alkoholisierten Vater verprügelt. Das mißhandelte, eingeschüchterte und unterwürfige Kind landet als Elfjährige auf dem Straßenstrich, wo sie versucht, „aus der einzigen Beschäftigung Kapital zu schlagen, von der sie glaubte, sie bringe ihr eine Art psychische Bestätigung und relativ leicht verdientes Geld ein“. Karolines Leben nimmt dann 1913 überraschend eine glückliche Wendung. Ihre Tante Sophie nimmt sie mit nach Zürich, besorgt ihr dort eine Ersatzfamilie und schickt sie zum Ballettunterricht.

Nach einigen kleineren Statistenrollen am Stadttheater Zürich, nimmt sie Schauspielunterricht bei Richard Revy, der ihr erster Mentor wird, ihr eine literarische Bildung und einen neuen Namen verpaßt: Lotte Lenya.

In Zürich kommt Lenya mit der Dada-Bewegung in Berührung und verkehrt oft in Hugo Balls legendärem Cabaret Voltaire. Im Frühherbst 1921 übersiedelt sie auf Anraten von Revy nach Berlin und stürzt sich in das brodelnde Kulturleben der Reichshauptstadt. Berlin, das war zu jener Zeit die „Brutstätte“ von Max Reinhardt, Erwin Piscator, Jo Mielziner, Fritz Lang, F.W.Murnau, Ernst Lubitsch, Billy Wilder, Robert Siodmak, Fred Zinnemann, Erich Kästner, Anita Berber und vielen anderen. „Vom Tag ihrer Ankunft an interessierte Lenya sich für alles, was am Kulturleben Berlins wesentlich war. Mit ihrem Theaterinstinkt, ihrer Intelligenz, Spontaneität, Offenheit und dem unbändigen Lerneifer (die Kunst wie das Leben betreffend) war sie genau die richtige Schülerin in diesem riesigen Klassenzimmer Berlin.“

Den Grundstein zur späteren Karriere legt dann 1924 das Zusammentreffen mit dem jungen Komponisten Kurt Julian Weill, den sie 1926 auch heiratet. Das Verhältnis der beiden zueinander war „eine komplexe Symbiose“. Weills „Wesensart ermöglichte es ihm, weiterhin das Leben eines schöpferischen Künstlers zu führen, mit der dazu notwendigen Einsamkeit, aber sein Hang zur Schwermut wurde ausbalanciert durch die gesunde Gegenkraft, die Lenya für ihn darstellte. Sie lockte das Verspielte, die latente Sinnlichkeit in ihm hervor.“ Privat und beruflich ergänzten sich der Introvertierte und die Extrovertierte ideal. Der „wahrhaft schöpferische“ Weill hatte in Lenya seine Muse gefunden.

Nachdem die beiden 1927 Bert Brecht kennengelernt hatten, und sich zwischen Weill und Brecht eine fruchtbare Zusammenarbeit anbahnte, erlebten die drei ihren künstlerischen Durchbruch 1928. Das von dem jungen Schauspieler Ernst Josef Aufricht neu eröffnete Theater am Schiffbauerdamm gab als erste Premiere Brecht/Weills Dreigroschenoper. Publikum und Kritik waren einhellig begeistert. Lotte Lenya hatte zwar nur die „Zuhälterballade“ gesungen, aber seit diesem Abend ist ihr Name unsterblich mit der Seeräuber-Jenny verbunden. Die aufkeimende Nazidiktatur zwang die Weills in die Emigration, konnte aber den Siegeszug der beiden als Künstler nicht verhindern.

Als sie 1935 in den USA ankamen, warteten praktisch schon Kompositionsaufträge auf Kurt Weill. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten lebten die Weills spätestens ab 1939 ohne materielle Sorgen.

Nach Weills Tod 1950 sah Lenya ihre Lebensaufgabe darin, Weills „Musik zu verteidigen, sie am Leben zu erhalten, was immer in meiner Macht steht alles dafür zu tun“. Sie hat das auf bravouröse Weise als Interpretin und resolute Nachlaßverwalterin bis an ihr Lebensende 1981 getan. Ungeachtet der vielen persönlichen Katastrophen (sie heiratete noch dreimal, jeweils homosexuelle Männer mit selbstzerstörerischen Neigungen) hat sie über das „heilige Feuer“ ihres ersten Mannes gewacht und war im mittleren Alter zur lebenden Legende geworden; ihre eigene Karriere war stetig vorangeschritten und fand 1966 ihren absoluten Höhepunkt mit dem Musical Cabaret, in dem sie die Rolle des Fräulein Schneider verkörperte.

Film- und Konzertauftritte sowie diverse Schallplattenaufnahmen machten sie letztendlich zum „kulturellen Idol sui generis“. Das Geheimnis ihres Erfolges brachte ein Kritiker der 'New York Post‘ auf den einfachen Nenner: „Sie ist eine Frau, die seit ihrer Geburt die Landkarte ihres Lebens in Gesicht und Stimme mit sich trägt und vier Jahrzehnte lang die Menschen damit aufgewühlt hat.“

Donald Spoto, gelobter Hitchcock- und Tennessee-Williams -Biograph, ist für seine Detailbesessenheit und Recherchierakkuratesse bekannt. Die überflüssigen sozialhistorischen und -kritischen Einsprengsel und die vielen mitgeteilten Nichtigkeiten machen jedoch die Lektüre seiner Lenya-Biographie, bei der er auch auf die bisher unveröffentlichten Lebenserinnerungen Lenyas zurückgreifen konnte, an einigen Stellen arg langatmig.

Umfeld schön und gut, aber nicht jede Bagatelle, die im Nebenzimmer passierte, hat Auswirkungen auf Lenyas Leben gehabt. Viele Seiten, die keinerlei Relevanz für das Verständnis von Lenyas Biographie haben, legen den Schluß nahe, daß man damit Buchdicke erreichen wollte. Im anglo -amerikanischen Sprachraum scheint man augenblicklich der Auffassung zu sein, daß Masse für die Qualität von Biographien ausschlaggebend ist. Allein, nicht jede Schwarte kann so ein Glücksfall sein wie Gerald Clarkes Capote-Buch oder Ted Morgans Burroughs-Biographie. Spotos ansonsten durchaus empfehlenswerte Lenya-Lebensgeschichte hätte etwas weniger Speck gut getan.

Wolfgang Rüger

Donald Spoto: Die Seeräuber-Jenny . Das bewegte Leben der Lotte Lenya. Übersetzt von Michaela Grabinger. Droemer Knaur, 448 Seiten, 44 DM.