Blutige Bilanz des Istanbuler 1. Mai

Schwerverletzte und 3.304 Festnahmen / Regierung rechtfertigt „effizienten“ Militäreinsatz Sozialdemokraten und Gewerkschaften fordern Legalisierung des 1. Mai als Feiertag  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Studentin der Technischen Universität Istanbul Gülay Beceren wird ihr Leben lang querschnittgelähmt sein. Folge einer Polizeikugel am 1. Mai, die sie an der Wirbelsäule traf. „Der 1. Mai auf türkisch - Bilanz eines Arbeiterfeiertages: Steine, Polizeiknüppel, Waffen, 2.533 Festnahmen, 50 Verletzte“ lautete die Schlagzeile der liberalen Tageszeitung 'Günes‘. Großformatige Fotos sind auf allen Titelseiten der türkischen Tageszeitungen. Stets das gleiche Bild: mit Maschinenpistolen bewaffnete Militärs, die in den Straßen marschieren, Knüppel und Schlagstöcke schwingende Polizisten, Menschen, die auf das Pflaster niedergeknüppelt werden. Die Zeitungen, die zuerst die Zahl von 2.533 Festnahmen meldeten, mußten sich bald korrigieren. 3.304 Festnahmen gab der Polizeichef von Istanbul, Hamdi Ardali, bekannt. Ein Rekord: 1988 gab es 85 Festnahmen, 1989 550 Festnahmen, nun über 3.000.

„Wir hatten zwar eine Vorahnung, daß die Polizei gegen Demonstrationen vorgehen würde. Aber das sie so hart gegen Demonstranten vorgehen könnten, haben wir nicht gedacht, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft der städtischen Arbeiter, Hidir Bal. Gegen den Gewerkschafter wird ermittelt, weil er „das Volk zu einer illegalen Kundgebung aufrief“. Hunderte von Familienangehörigen verbringen Tag und Nacht vor dem Polizeipräsidium Istanbuls, um den Verbleib der Festgenommenen zu erfahren.

1.300 sind mittlerweile auf freien Fuß gesetzt. Beim Rest stehen Folterverhöre im Präsidium an, um „illegale Organisationen“, die zum 1.Mai aufgerufen haben, dingfest zu machen. Jahr für Jahr das gleiche Schauspiel. Kabinettsmitglieder, die sich rühmen, 1.-Mai-Feiern verhindert zu haben, Oppositionspolitiker, die gegen die Polizeigewalt protestieren. „Entschlossen und effizient haben die Angehörigen der Sicherheitskräfte bei ungesetzlichen Kundgebungen und Demonstrationen interveniert“, erklärte Innenminister Abdülkadir Aksu. „Einige Gruppen haben versucht, am 1.Mai Aktionen zu starten. Doch zu bedeutenden Störungen von Sicherheit und Ordnung kam es nicht. „Verglichen mit den Vorjahren, war es der beste 1.Mai“, triumphierte Polizeipräsident Necati Bilican.

Erdal Inönü, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP), kündige indes an: „Jeder soll sich sicher sein: Wenn wir an die Regierung kommen, wird der 1.Mai legaler Tag der Arbeit.“ Auch der konservative Oppositionelle Demirel kritisierte die Verbote der Regierung. 41 Istanbuler Gewerkschaften gaben eine Erklärung zum blutigen Polizeieinsatz ab: „In Demokratien wird nicht aufs Volk geschossen. Die Polizei beruft sich beim Recht, auf Bürger zu schießen, auf eine Regierung, die Terror zur Staatspolitik erklärt hat.“