Lettlands sanfte Abnabelung

■ Auch ein großer Teil der nichtlettischen Bevölkerung unterstützt die Ablösung von Moskau / Kompromißvoller Weg mit Übergangsperiode wie in Estland erwartet

Riga/Berlin (taz) - Als gestern das lettische Parlament tagte, um die Unabhängigkeitserklärung Lettlands zu beraten, versammelten sich einige tausend Menschen vor dem Parlamentsgebäude in Riga. Sie wollten den Abgeordneten der Volksfront moralisch den Rücken stärken, weil in Lettland genau wie in Litauen und Estland zwei Drittel der Abgeordneten der Erklärung zustimmen müssen. Die Mehrheit für die für heute erwartete Unabhängigkeitserklärung scheint nach dem Wahlsieg der lettischen Volksfront vom 18. März jedoch sicher: Die Volksfront errang 131 der 199 Sitze obwohl der Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung nur 52 Prozent beträgt. Bei einer am Montag veröffentlichten Umfrage trat fast die Hälfte der eingewanderten Bevölkerung für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion ein. Die Gegner der Unabhängigkeit sind in der Interfront organisiert, die durch 60 Abgeordnete im Parlament vertreten ist.

Noch ist nicht sicher, ob der Inhalt der Unabhängigkeitserklärung ebenso radikal ausfällt wie im Nachbarland Litauen, das von der sowjetischen Zentrale in Moskau zu Zugeständnissen und Kompromissen gedrängt wird. Eher ist anzunehmen, daß die lettischen Abgeordneten dem Beispiel Estlands folgen, dessen Parlament in seiner Erklärung Spielräume für Verhandlungen mit Moskau offenließ.

Unterdessen ist die litauische Ministerpräsidentin Kazmiera Prunskiene in Washington eingetroffen, um mit US-Präsident Bush zusammenzutreffen. Die US-Regierung hat die nach dem Stalin-Hitler-Pakt 1940 vollzogene Annexion Litauens durch die Sowjetunion niemals anerkannt.

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