Olbernhau: Tor zum Spielzeugland, Tor zum „Videoland“

Wie der Kommunalwahlkampf und die Umbruchssituation in der kleinen Erzgebirgsstadt Olbernhau aussehen / Der langjährige Bürgermeister wird jetzt gehaßt wie die Pest, sein ehemaliger Fahrer verweigert ihm jetzt, als Wirt, das Schaschlik / Für den ersten Bürgerrechtler bleibt nur die Rolle der örtlichen Kassandra  ■  Von Klaus Hartung

„Das Erzgebirge, wie wir es gerne hätten“, sagt Ulrich Beutel. Das Dia zeigt die langgeschwungenen Waldberge meiner Kindheit. Wahlveranstaltung der Grünen und des Kulturbundes in Olbernhau, in meiner alten Schule, der Dimitroff -Oberschule. Die Bedrückung durch die fröstlig hohen Räume kehrt wieder. Nur ist alles viel schäbiger, das Parkett aufgebrochen, die Wände fleckig. Sechs Leute sind anwesend, vier Kandidaten und zwei Besucher. Dieses geringe Interesse ist typisch. Zwei Tage später ziehen in derselben Schule elf CDU-Kandidaten fünf Interessierte an. Im Jugendclub stellen sich sieben SPD-Kandidaten zwei Besuchern vor. Einer von denen ist der 82jährige Sozialdemokrat Müller, der die Vereinigung der Arbeiterparteien mit Jahren im Gefängnis bezahlen mußte. Alle Parteien sind konsterniert über das fehlende Interesse. Ihre Erklärungen unterscheiden sich nur in den Graden der Bitterkeit. Tenor: „Am 18. März haben die Leute die D-Mark gewählt und jetzt warten sie auf die D -Mark.“

Dr. Beutel, seit März Abteilungsleiter Naturschutz beim Rat des Kreises, zeigt Dias vom Knabenkraut, von der Sperlingseule, vom Schwarzstorch. „Wer empfindet nicht eine weite Brust, wenn er durch einen Buchenwald gehen kann?“ Aber Olbernhau im Tal der Flöha ist ein Jammertal, die „Großkahlflächen“ weisen auf die Zerstörung der Wälder am Erzgebirgskamm durch den Dreck aus dem Böhmischen Becken und durch die Industrie von Chemnitz und Zwickau sowie den Hausbrand hin. Dann die ungeordnete Mülldeponie mitten im Ort, in der Talsohle; zwei Güllegruben im Trinkwassereinzugsgebiet, die undicht sind. „Seit acht Jahren saufen wir Scheiße“, empört sich Peter Fritzsche vom Neuen Forum. An diesem Abend in der Dimitroff-Oberschule blicken alle aus einer trüben Gegenwart in eine noch trübere Zukunft. „Der Wille zum Konsum wird alles überwuchern“, meint Dr. Beutel. „Auf Vernunft und Agitation kann man nicht bauen“, sagt die grüne Konditorin Steffi Gehmlich aus Neuhausen. Sie fühlen sich von der politischen Entwicklung verraten. „Wir müßten eben mit Bananen kommen und einem Sonderangebot von Beate Uhse“, höhnt Fritzsche.

Bananenkleister

Fritzsche, 32, hager, blond bis zu den Augenbrauen, das Haar zu einem kleinen Zopf gebunden, ist ein Mann der ersten Stunde. Am Freitag, dem 13. Oktober begann die Revolution in der kleinen Stadt an der Grenze. Fritzsche stand mit Freunden am Markt und überlegte, wie man dort so etwas ähnliches hinkriegen könnte wie in Leipzig. Da kam ihnen schon ein laut rufender Demonstrationszug entgegen. Arbeiter aus dem Blechwalzwerk, wird vermutet. Es folgten die Olbernhauer Montagsdemos, zu denen schließlich die Leute aus dem ganzen Kreis kamen. Einmal waren es mehr Demonstranten als Olbernhauer Einwohner hat, mehr als 12.000 also. Vor der Wende hatte Fritzsche seinen Freundeskreis - „an die 40“ an den Westen verloren. Mit Frau und Kind zog er sich zurück in sein Elternhaus. Im Rahmen der Olbernhauer Wende machten er und das Neue Forum dann alles: den Kummerkasten für die Bevölkerung bilden, Hilfe bei der Wohnungssuche geben und für Unterstützung der Opfer des Systems sorgen, „niveauvolles Kulturprogramm“ anbieten. „Sechs Veranstaltungen habe ich organisiert. Irish Folk habe ich hergeholt. Im Gebirge liebt man ja den Blues. Aber die Rockgruppen wollten bezahlt sein. Doch nach dem 9. November sausten die Leute in den Westen. Das war wichtiger als Irish Folk. Ich hab soviel Schulden, meine Frau darf's gar nicht wissen.“

Das Neue Forum hat 18 Mitglieder - und 200 Wähler. „Wir glauben an die Vernunft des Volkes“, heißt es im Wahlaufruf des Neuen Forums. Fritzsche nicht. Seine Formel: „Bananenkleister“ in den Köpfen der Leute. Ein richtiger Haß auf Südfrüchte bis hin zu den Kiwis. Er spielt die Kassandra im Ort, macht alleinlebenden Vätern klar, daß die Frauen Unterhaltsgeld fordern werden; klärt Eigenheimbesitzer auf, daß sie den Boden bald nicht mehr bezahlen können. „Wenn die Marktwirtschaft kommt, müssen wir die alle noch überm Eimer zum Kotzen halten, die für die Einheit gebrüllt haben.“

Der junge Politprofi

Wenn die anderen Parteipolitiker über Peter Fritzsche reden, ist immer ein Ton von Rührung und Schuldbewußtsein herauszuhören. Bei Ingolf Wappler fehlt dieser Ton. Der neunzehnjährige CDU-Vorsitzende, Sohn des Pfarrers, macht ganz auf alerten Profi. Zwar habe auch er „Neues Forum zulassen“ geschrien in den Novembertagen. Jetzt sei es aber links von der PDS, habe seine Rolle ausgespielt: „Nicht mehr akzeptabel. Mit denen reden wir nicht mehr.“ Wappler, der Profi, Jeansanzug und Kurzhaarschnitt, versteht die Warnung eines de Maziere vor einem „antisozialistischen Opportunismus“ überhaupt nicht. „Ich stehe zum Kanzler.“ Es sei zwar gut, daß man einen Abrüstungsminister habe, aber Wehrpflicht müsse in einer Demokratie sein. Er hofft, daß das Asylrecht im vereinten Deutschland geändert werde. Auch über die polnische Westgrenze müsse man sich erst einmal eine Meinung bilden. Und mit Ausländern leben, das habe man bislang ja gar nicht gelernt.

Altlast und Unternehmer

Ingolf Wappler steht für einen Wahlkampfstil, in dem nächtliche Schlachten der Klebekolonnen vorherrschten. Alle anderen im Ort bedauern das inzwischen. Dr. Steffen Laub, Spitzenkandidat der CDU und bislang Fachdirektor in einem Glühlampen-VEB, ein eher reflektierender Intellektueller mit deutlicher Vorliebe für die „leiseren Töne“ de Mazieres, findet auch, der erste Wahlkampf war „zu schrill, zu aggressiv.“ Am 1. Mai sollten die Parteien nicht agitieren. Ein gemeinsam veranstaltetes Kinderfest sollte es sein. Würstchen und Schaschlik-Buden, ein Zelt vom neuen Videoladen „Videoland“. Die CDU veranstaltete eine Versteigerung für Behinderte, die Liberalen boten das Anmalen von Spielzeug und Tonarbeiten an und die SPD organisierte Wettspiele unterm Maibaum. Aber Ralf Schenk, Vorsitzender der kleinen SPD-Ortsgruppe - sechzehn Mitglieder seit Februar - notierte bitter, daß die CDU doch ihre Kandidaten vorstellte. Übel vermerkt wurde auch, daß die PDS mit Fähnchen und Programmaterial gekommen sei.

Alle Parteien betonen den Willen zur Gemeinsamkeit. Die Programme unterscheiden sich höchstens in der Rangfolge der Forderungen: Tourismus, Industrieansiedlung, Wohnungsbau (1.000 Wohnungssuchende), Ökologie (Kläranlage), Umstellung der Heizung (Filter), Stadtgestaltung („Tor zum Spielzeugland“). Die SPD bringt es gar auf 32 Programmpunkte. Hinzu kommt bei ihnen der Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung, die Ausarbeitung eines Flächennutzungsplans, ganz zu schweigen von den ungeklärten Problemen des Haushalts. Ohne Engagement der Bevölkerung wird nichts gehen, betont Dr. Laub immer wieder, aber sagt selbst: „Den Leuten sind Bananen wichtiger als die Demokratie.“ Sein Konkurrent Peter Gettler (48), Spitzenkandidat der Liberalen, Ingenieur und noch Stadtrat für Volksbildung, urteilt ähnlich pessimistisch: „Wir sind Zoo-Menschen, die jetzt freigelassen sind.“ Bei allen Zukunftsfragen taucht irgendwann die Formel auf: „Man hat es uns nicht beigebracht.“ Nur die PDS-Genossen formulieren selbstkritisch: „Wir haben es ihnen nicht beigebracht.“ Die Selbstverwaltung soll kommen, aber die Altlasten sind noch da. Für Peter Fritzsche hat sich an der örtlichen Machtstruktur überhaupt nichts geändert. Ralf Schenk, SPD, sieht die Chance seiner Partei, weil sie „unbelastet“ ist. Aber die Personaldecke der SPD ist dünn. Günter Hess, 40, Ingenieurökonom: „Ich wollte nur in der SPD mitmachen, keine Funktion übernehmen, und was ist dabei rausgekommen: jetzt bin ich Spitzenkandidat!“

In der örtlichen Politikerschicht ist schwer zwischen alten Kadern und neuen Unternehmern zu unterscheiden. „Manche Stalinisten haben die Marktwirtschaft plötzlich mit den Löffeln gefressen“, meint Dr. Laub. Da ist etwa Heinz Op Hay, 49, Direktor des bezirksgeleiteten Kombinats „Erzgebirgische Volkskunst.“ Das Kombinat wird aufgelöst und der Machtkampf um die Privatisierung, um die Bewertung der „Grundmittel“ ist längst schon im Gange. „Arafat“ wird Op Hay genannt. Als „Stalinisten, der jetzt den Superkapitalisten spielt“, kennzeichnet ihn Gettler. Wolfgang Tannenberger, 50, Kandidat der CDU und bislang Chef der Bauabteilung des Kombinats, möchte möglichst viele Arbeitskräfte aus seiner Abteilung in eine GmbH überführen und spekuliert auf das „Weiße Haus“, das Verwaltungsgebäude des Kombinats. Op Hay will es dagegen der Stadt übereignen und dadurch Arbeitsplätze sichern. Aber ins „Weiße Haus“ will auch eine künftige Fahrschule, eine Lehrwerkstätte und eine Behinderteneinrichtung. Op Hay, massiger Fleischkopf, Hornbrille, bleibt reaktionslos und verbreitet optimistisches Kauderwelsch: „Wir haben den Prozeß (der Auflösung) rechtzeitig eingeleitet.“ Nur dreißig, vierzig Beschäftigte von 2.700 seien „noch“ nicht vermittelt. Nebensätze verraten allerdings, daß es brutaler zugeht. Wegen der „unangenehmsten Arbeit, die ich bisher gemacht habe“, kann er derzeit nicht für seine Partei, die PDS, kandidieren. Die Kandidatur schade der Partei. Er wiegelt weiter ab: „Dort, wo es machbar ist, werden auch die Werktätigen informiert.“ Im Ort hört man das Gegenteil: Keiner weiß, ob er seinen Arbeitsplatz behält. Nur Op Hay selbst reagiert auf die Frage, ob er denn in Zukunft als freier Unternehmer tätig sein will, plötzlich mit einem breiten Grinsen: „Jetzt werde ich erst Mal arbeitslos.“

Ein Hoffnungsträger der Stadt ist Georg Rockensüß (68) aus dem Westen, pensionierter Verwaltungsdirektor von Stadtbergen bei Augsburg, der Partnerstadt. Als Diplom -Verwaltungswirt, Praktiker und Dozent in der Verwaltungsschule entwirft er Pläne für die künftige Verwaltung Olbernhaus, stellt Kontakte zu Firmen im Westen her und segnet die ersten Schritte zur Marktwirtschaft ab. Er ist eine unbestrittene Autoriät, auf die sich alle berufen - vom Ex-Bürgermeister Thürasch (PDS) bis zu Gettler (Liberale). Eine Halbleiter-Fabrik werde sich in Olbernhau ansiedeln und mit einer großen französischen Joghurt-Fabrik sei man in Verhandlung, deutet er an. Ein Name wird nicht genannt, es klingt aber ganz nach Danone. Joghurt ist Mangelware. Die örtliche Molkerei ist wegen des zentralen Plans auf Käseproduktion fixiert.

Die Leute sind von den Hoffnungen wie von den Ängsten gleichermaßen genervt. „Die werden sich umgucken, wenn am 1.Juli das Geld kommt“, sagt Katharina Rösch (31) von der SPD. Allen, egal welcher Parteizugehörigkeit, geht es viel zu schnell. Die Leute sind erschöpft, meint Dr. Beutel. Sie seien in eine „neue Müdigkeit zurückgefallen“, so müde wie „früher in der DDR.“ Aus allen Gesprächen spürt man, daß in den nächsten Monaten entschieden wird, wie die künftige Rangordnung in der Kleinstadtgemeinschaft aussehen wird. Welche Familie aufsteigt, welche absteigt.

Kein Schaschlik

In einer Ecke des Dr. Külz-Platzes mache ich am 1. Mai schließlich Dieter Thürasch, den Ex-Bürgermeister, ausfindig. Er läd mich zum Schaschlik ein. „Von mir bekommen sie keinen Schaschlik“, tönt es aus der Bude. Es ist sein ehemaliger Fahrer Frank Legler. Hätte ich ihn nur entlassen, murmelt Thürasch. Seine PDS-Genossen reagieren mit eingezogenem Kopf. Im Ort ist es nach einem halben Tag rum, daß ich auch mit Thürasch rede. Der Ex-Bürgermeister, vom regionalen „Runden Tisch“ abgesetzt, hat eine Karriere vom Traktoristen über den Agrar-Ingenieur bis zur Kreisleitung hinter sich. Seit einem Jahr im Amt, hat er viele Dinge in Gang gebracht. Den 'Erzgebirger Kurier‘ hat er initiiert, dessen Nullnummer erschienen ist. Nach Schwedt ist er gefahren und hat 100 Tonnen Bitumen für die maroden Straßen organisiert. Wahrscheinlich hat er, wie alle anderen Organisierer, die Spielwaren, die Pyramiden, Räuchermänner und Spanbäumel eingesetzt, die man sonst im Handel nicht bekommt. Die Gartenbaugenossenschaft hat er dazu gebracht, auch für den Ort Konserven zu liefern. Umso bitterer ist er, daß jetzt der örtliche Konsum-Laden den Kontakt abgebrochen hat und Westwaren für D-Mark verkauft. Er hat versucht, mit der Wende mitzuhalten, hat sich an den Kontakten zur bundesrepublikanischen Partnerstadt Stadtbergen beteiligt. Aber zeitgleich traf dort ein Brief ein. Er sei „nicht legitimiert, hat für die Stasi gearbeitet und eine Anzeige wegen Wahlfälschung läuft.“ Der Bürgermeister von Stadthagen empfing ihn dann auch nicht. Thürasch sitzt in seinem halbfertigen Eigenheim, schwankt zwischen Wut und Resignation. Daß seine Kinder in der Schule angefeindet werden, erzählt er mit tonloser Bitterkeit. Auch mit der schönen Pionierarbeit, die seine Töchter so geliebt haben, sei es vorbei.

Einer der Briefschreiber an den Bürgermeister von Stadtbergen war Frank Legler, 29, Holzschnitzer von der Ausbildung und noch als Fahrer der Stadtverwaltung tätig. Sein Bruder Dieter, 36, hat vor drei Wochen die Videothek „Videoland“ aufgemacht. Ein Stück heiles Westdeutschland in Olbernhau: Holzpanele, Papyrusbüsche, blitzende Sauberkeit. „Otto, der Außerfriesische“, Rambo I'II und III sind die Hits. Und natürlich Pornos. „Unter 18 Jahre verboten“, betont Dieter Legler. „Nachholbedarf“ sei es und es stimme ihn traurig, daß Filme wie „Rainman“ nicht gehen. Nebenher werden erzgebirgische Spielwaren eigener Produktion angeboten, auch den „Olbernhauer Reiter“. Auf die Frage, warum er Thürasch den Schaschlik verweigerte, blickt er in die Ferne und legt los: „Das können Sie sich nicht vorstellen, die 40 Jahre. Die Leute sind gereizt. Ich habe als Fahrer Dinge erfahren, die habe ich öffentlich gemacht. Es sind Fassadenschmierereien gewesen. Neues Forum zulassen, Demokratie usw. Die mußten wir Sonntagsfrüh übermalen. Da machte er so Äußerungen wie 'Arbeitslager für solche Leute‘... Das ist Urschleim.“ Frank Legler ist in die CDU eingetreten. Sein Bruder neigt zur DSU, „weil sie den Kommunisten noch klarer die Meinung sagen.“ Beide, schnauzbärtig, energiegeladen, haben kaum Zeit. „Nichts tut mir mehr weh, als wenn die im Westen sagen, wir arbeiten nicht genug. Ich arbeite auch noch nachts wenn's sein muß.“ Sein „Videoland“ jedenfalls floriert. Peter Fritzsche schlägt vor, mit dem Umbenennen fortzufahren. „Da Karl-Marx -Stadt jetzt wieder Chemnitz heißt, könnte man ja Olbernhau in Videoland umbenennen.“