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Prima Empfindsamkeit

■ „Kenny“: Film mit einem echten Behinderten und falschem Optimismus

Was für Theaterschauspieler früher die Rolle des Hamlet war, ist heute für Filmschauspieler die Rolle eines körperlich oder mental Behinderten: Einmal einen Autisten wie Dustin Hoffman spielen und damit, wenn schon nicht in die Film-, dann wenigstens in die Schauspielergeschichte eingehen als Künstler, der mit seiner Virtuosität das Publikum zu Tränen rühren kann über ein Krankheitsbild, von dem dasselbe Publikum im allgemeinen nichts wissen will. Modern ist auch, Behinderte sich selbst darstellen zu lassen. Das ist natürlich noch viel authentischer, rührt mehr ans Herz - und garantiert eine Befangenheit der Kritiker, die vor lauter Betroffenheit das Filmwerk loben, auch wenn es, statt gut gemacht, nur gut gemeint ist.

Denn die verdeckte Botschaft solcher Filme ist immer und muß immer sein: Diese Menschen haben nicht nur ein Recht zu leben - sie werden mit ihrem Leben auch prima fertig. Und genau diese Botschaft macht Filme mit Behinderten oft so verlogen, denn sie bürden diesen Menschen zu allem anderen auch noch die Last auf, ihr Schicksal besser meistern zu müssen als Nicht-Behinderte - mit Optimismus, psychischer Stärke und bei

spielhafter Sensibilität.

Behinderte im Film dürfen nicht aggressiv sein, nicht hadern mit ihrem Schicksal, keine unsympathischen Charakterzüge haben: Sie müssen gewissermaßen mit ihrer fast übermenschlichen Lebensfähigkeit beweisen, daß sie ein Recht auf Leben haben, indem sie uns beschämen. Aber solange Behinderte nicht auch ein Recht auf Wut, auf Egoismus, auf Forderungen ha

ben, bleiben diese filmischen Plädoyers für das Recht auf Leben mehr oder weniger triefige Unaufrichtigkeiten.

„Kenny“ schwankt zwischen dieser Unaufrichtigkeit und dem Versuch, einen behinderten Jungen mit halbwegs menschlichen, nicht übermenschlichen Zügen auszustatten: Der dreizehnjährige Kenny hat von Geburt an keinen Unterkörper. Er hört einfach mit

der Taille auf, und wenn man ihn zum ersten Mal erblickt, wirkt er wie eine Zaubertrickfigur im Märchenfilm. Wieselflink läuft er auf seinen Händen, bewegt sich auf dem Skateboard fort und benimmt sich wie seinesgleichen: als kleiner, listiger Lümmel, der seinem größeren Bruder das Liebesspiel kaputtkichert, freche Antworten gibt, die Eltern zur Weißglut bringt mit seiner Selbständigkeit.

Sein größtes Problem ist, daß man ihm eine Beinprothese verpassen will - nur, um den anderen seinen Anblick zu ersparen. Und wie ihm die Prothese angepaßt wird, die den behenden Jungen wirklich behindern würde - das macht, neben der Darstellungsfähigkeit von Kenny, diesen Film tatsächlich sehenswert. Das Drumherum hingegen ist schrecklich gut gemeinter Spielfilm, voller Familienprobleme, die Kenny mit seinem Mut und seiner Empfindsamkeit beseitigt, als tapferer, kleiner Kerl.

Etliche Preise hat der Film gekriegt. Gute-Gewissens-Preise dafür, daß er einen Behinderten sich selbst hat spielen lassen, um ihn mit kitschigem Optimismus einzuseifen.

Sybille Simon-Zülch

Schauburg, Kleines Haus, 16, 18 Uhr.

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