„Der Mensch ist keine Fliege“

■ Hamburger Sozialforscher zur Geschichte der Eugenik und Genforschung

„Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens“ ist der Titel einer Vortragsreihe, die am Donnerstag in die dritte Runde ging. Bremer Behinder teninitiativen und der Paritätische Wohlfahrtsverband wollen mit Fachleuten und Publikum die Problematik moderner Gen-und Reproduktionstechnologie diskutieren. Ludger Weß vom Hamburger Institut für Sozialforschung des 20. Jahrhunderts sprach vor vollem Saal über „Eugenik im Zeitalter der Gentechnologie - vom Zwang der freiwilligen Inanspruchnahme“. „Eigentlich ist es furchtbar, daß es diese Veranstaltungsreihe überhaupt gibt“ sagt er. Seit der australische Eugeniker Prof. Peter Singer erfolgreich propagierte, „das Lebensunwerte zu vernichten“, ist die Diskussion um „wertvolles“ und „unwertes“ Leben neu entfacht. „Wie soll ich meinem Kind einmal erklären, daß es existiert?“ fragt nach dem Referat des Hamburger Eugenik -Gegners die Mutter eines behinderten Kindes in die ratlose Runde.

Seit jeher verankern Genforschung und Eugenik die Unter

scheidung von hochwertigem und minderwertigen Leben in unseren Köpfen. „Freiwillige Inanspruchnahme“? Hinter diesem nichtssagenden Begriff verbirgt sich die lange Tradition der gezielten wissenschaftlichen Menschenzucht (Eugenik). Anfang des 20. Jahrhunderts träumten Eugeniker von einer „gesundeten“ Gesellschaft ohne soziale Lasten. Randgruppen, Arbeitslose, Alkoholiker u.a. hemmten ihrer Meinung nach die „Verbesserung“ der Gesellschaft - die Evolution. Sie sollten deshalb an Fortpflanzung gehindert werden.

Der Traum des amerikanischen Eugenikers Frederik Osborn, daß einst die Menschen selbst für die genetische Verbesserung sorgen würden, ist zum Teil Realität geworden. In der humangenetischen Beratung wird diese Vision der dreißiger Jahren ein Stück Wirklichkeit. Osborn paßte die klassische Eugenik der modernen Industriegesellschaft an. Statt staatlicher Eingriffe sollte lieber in den Bürgerköpfen als „hochwertig“ verankert werden, was Wissenschaft und Medizin für gesund befinden. Daß Fa

milien freiwillig die Auswertung ihrer genetischen Anlagen in Anspruch nähmen, wäre die Erfüllung von Osborns Vision.

„Die Träume der Genetik“ - so heißt ein Buch, das Weß bei Greno herausgab. Sie sollen verhindern, daß die Menschheit an ihrer „genetischen Bürde“, an der Multiplikation ihrer genetischen Fehler, zugrunde geht. Den Stoff für ihre Horror -Visionen entnahmen die Väter der Eugenik ihren Forschungen an einer Fliege. „Kurzsichtigkeit“ attestiert Ludger Weß den genetischen Untergangstheorien: „Man kann von der Fliege nicht auf den Menschen schließen.“

Eine Besucherin fordert die kompromißlose Integration behinderter Menschen. Ihr war es nicht gelungen, einen Fußball-Verein zu finden, der nicht leistungsorientiert ist und in dem ihr Sohn trotz seiner Behinderung einen Platz gefunden hätte. Sobald seine Behinderung zur Sprache kam, war der Ofen aus. „Ich melde ihn jetzt einfach an!“ Applaus im Saal. Denn der Mensch ist keine Fliege.

Ina Krauß