DIE GUTEN GÖTTER HÖLDERLINS

■ Eine Gespräch mit Danielle Huillet und Jean-Marie Straub über ihren neuesten Streifen „Cezanne“ und die Zernichtung ihres Sujets

taz: Herr Straub, vor drei Jahren sagten Sie in einem Interview mit 'filmwärts‘, daß es nicht viel Sinn hätte, einen Film über Cezanne zu machen, nicht mal einen Dokumentarfilm. Nun haben Sie einen gemacht - und zweifellos liegen die Vorbereitungen schon weit über drei Jahre zurück. Damals sagten Sie auch, man könne von Cezanne wohl die Cadrage (Einstellung des Bildausschnitts) lernen, nicht aber das Licht übernehmen. Unter den heutigen Filmemachern sind Sie beide zweifellos die größten Bildeinsteller - auch die exzessivsten. In der dritten Einstellung ist ein Foto zu sehen, Cezanne im Profil vor seiner Staffelei (ebenfalls im Profil). Das Foto scheint ein wenig schief auf der Bildfläche zu stehen. Haben Sie schlecht cadriert?

Jean-Marie Straub: Das Foto klebte an einer roten Hauswand und obwohl wir es ganz gerade gehängt hatten, war es nachher doch schief, weil die Hauswand nicht ganz gerade war. Wir haben diese Sache an der Wand als erste aufgenommen. Und wir wollten zehn Bilder von Cezanne aufnehmen, in Paris, in Edinburgh, in Basel, in London - und diese Einstellung mit dem Cezanne-Foto war eine Probe, damit die Leute dort verstehen, daß wir versuchen wollten, ganz waagerecht zu filmen. Und diese erste Probe ist einen Hauch danebengegangen. Deswegen waren wir nachher viel präziser. Weil wir gerade gemerkt hatten, daß es auch um einen hundertstel Millimeter wichtig ist, noch präziser zu arbeiten mit der Wasserwaage und mit der Kamera und der Wand. Wir hatten den Kameraleuten gesagt: soviel Luft links, soviel Luft oben, soviel Rot oben, soviel Rot links, soviel Rot unten und dann möglichst waagerecht. Und das ist eben ein Hauch danebengegangen. Mir ging es darum, daß Cezanne genau weiß, wieviel er von einem Stuhl zeigt, ob er die Knie zeigt von einem, der auf dem Stuhl sitzt, wo er die Finger abschneidet, wieviel Luft er über dem Kopf hat, ob er eher eine leichte Vogelperspektive hat auf einen Tisch mit Obst oder ob er eher aus der Froschperspektive guckt ... das meinte ich. Und vor allem, noch wichtiger, in welcher Entfernung er steht.

Mir leuchtet das gerade hinsichtlich der Empedokles-Szene ein, die Sie in den Cezanne-Film hineingeschnitten haben. Jene Szene auf der Bank im Park, als Empedokles mit einem Ruck aufsteht - klack! - und dann im Bild steht wie eine Wand: vom Knie bis zum Hals.

Straub: Aber dazu gehört noch, wieviel Luft wir über der Mauer hatten, hinter der Bank. Man hätte wie in vielen japanischen Filmen, die ab und zu Szenen in einem solchen Park zeigen, Luft über dieser Mauer lassen können. Das wäre auch eine Entscheidung. Außerdem die Bank, auf der die beiden sitzen. Sollte man die Fläche zeigen - wie wir es gemacht haben (wenn auch nicht ganz in der Vogelperspektive) - oder diese Fläche gar nicht zeigen... Im Augenblick, in dem Empedokles aufsteht, ist die Fläche genauso wichtig wie er. Denn dann sieht man ein bißchen Licht drauf, und man sieht die orangenen Punkte des Steins und das Weiße und das Grün da drin. Die Perspektive der Kamera auf die Bank war die gleiche für die gesamte Sequenz. Man mußte also ganz genau wissen, was am Anfang und was am Ende passiert, um die genaue Höhe des Blickes und der Kamera zu bestimmen.

Für alle vierzig Einstellungen an diesem Ort hatten wir nur eine Perspektive; wir haben nur die Objektive gewechselt. Das ist die Arbeit beim Cadrieren.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube nicht, daß ich gesagt habe, ich würde nie einen Film über Cezanne machen. Ich habe gesagt, ich glaube nicht an Malerei im Kino. Wir haben lange schon an einen Film über Cezanne gedacht, ziemlich vage.

Danielle Huillet: Wir haben nie einen Weg gefunden. Und dann hatten wir drauf verzichtet.

Straub: Und dann kam die Mode der Verquickung von Film und Malerei, und die vielen Jungs, die sagten, mein Film fängt an mit einem Licht wie bei Goya oder bei Vermeer van Delft usw. Das ist reiner Quatsch. Man kann nicht, was gemalt ist, irgendwie nachäffen. Eine Kamera ist doch kein Pinsel. Die Fotografie ist doch keine Leinwand. Und die Farben, die da kommen, die kann man doch nicht bestimmen; die werden vom normalen Licht oder von Gottvater gegeben. Das ist alles. Auch wenn man beleuchtet. Viel interessanter ist, über die Fotografie, über die man nicht verfügt, zu entdecken, was alles an Cezanne stimmt, wenn er ein Gesicht malt. Die roten und die grünen Flecken, die grünen Wolken, die muß man in der Wirklichkeit suchen. Dann geht man den gleichen Weg wie Cezanne. Man nimmt etwas auf, man registriert etwas, wie er, mit seinem Kopf und seinen Augen.

Ist der Film eine Alternative zum heutigen Museum?

Straub: Wenn man sehr prätentiös ist, könnte man sagen: dieser Film schon. Wenn man das so macht wie wir, dann schon.

Huillet: Wenigstens ist es eine Hilfe, wenn man dann später die Bilder im Museum sieht. Denn natürlich muß man zu den Bildern zurück.

Straub: Außerdem geht es nicht ausschließlich darum, Bilder von Cezanne zu zeigen. Das macht der Film nur nebenbei und zusätzlich und wie aus Gottes Gnade und mehr nicht. Ich könnte sogar behaupten, daß der Film, obwohl er im gewissen Sinne Dokumentarfilm ist, doch keiner ist, sondern eine Fiktion, eine Erzählung, ein Roman in der Form eines Essays. Das zweite Bild Cezannes im Film, die Orangen und Äpfel auf einem Tisch (die eine Pracht sind), das sind die „langentbehrten, die lebendigen, die guten Götter“ Hölderlins. Das wäre das Ergebnis einer Gesellschaft, die sich daran erinnern würde, daß die einzige Berechtigung des Menschen auf der Erde die wäre, seinen Garten zu hüten und daraus eine Pracht zu machen und ihn nicht zu zertreten, zu vernichten, zu veröden.

Die Montagne Sainte-Victoire, der Berg Cezannes, ist jetzt völlig verödet und verbrannt.

Straub: Die Kiefern, die man sieht, haben nicht grüne, sondern braune Nadeln. Das war zehn Tage nach dem Brand. Aber was kann bei all dem der Filmemacher schon tun? Er kann nur sagen: Hier ist eine Utopie. Doch Sie werden schon sehen, daß das wenige, was noch zu vernichten ist und was trotzdem besser war, drüben, hinter der Mauer, daß das jetzt vernichtet wird von der freien Marktwirtschaft. Nicht nur die Natur, sondern die Beziehung zwischen Menschen und der Alltag. Das wird vernichtet, zernichtet, zertreten. Und der Zynismus wird wie ein Wind die ganzen Ostblockländer, genau wie die Sainte-Victoire, verbrennen, vernichten, zernichten. Das geschieht innerhalb der nächsten zehn Jahre. Und dann werden Leute sich bereichern, und die armen Hunde werden irgendwelche Bananen kaufen können oder Computer.

Seit zwanzig Jahren sind wir Tag für Tag mehr erschrocken. Und das Ergebnis davon liegt in einer handwerklichen Arbeit oder in einem Nachdenken über unsere Filme. Das sind Blitze, aber mehr kann man nicht liefern. Die Blitze liegen in Dalla nuba alla resistenza und in Geschichtsunterricht, wo wir versucht haben, auf dreißig Seiten einen 300-Seiten-Roman von Brecht zu erzählen: Wie die Kolonialisation und das kapitalistische System arbeiten, wie der Handel anfängt und wie weit er führt.

Sie kommen aus Frankreich, wohnen in Italien und finden die Stoffe hier: bei Böll, bei Brecht, bei Kafka und bei Hölderlin.

Huillet: Darüber haben wir nicht nachgedacht. Natürlich ist es eine komische Geschichte, daß Leute, die Franzosen waren, nicht mal 15 Jahre nach dem Krieg nach Deutschland kommen und da Filme machen wollen. Wie das gekommen ist...

Straub: Das ist doch einfach! Es ist reiner Zufall. Wir sind einem Stoff begegnet: der Chronik der Anna Magdalena Bach. Dann habe ich mich geweigert, am Algerienkrieg teilzunehmen und an der Folter. Also bin ich abgehauen und wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, elf Jahre war ich auf der Fahndungsliste. Währenddessen haben wir weiter versucht, diesen Bach-Film zu verwirklichen. Immerhin elf Jahre lebten wir in München und kennen die Bundesrepublik viel besser als das sogenannte eigene Land.

Huillet: Wir waren noch ziemlich jung, also haben wir hier Erfahrungen gemacht, auch was Klassenverhältnisse betrifft.

Straub: Die Gewalt ist hier manchmal offener als in Ländern, wo sie noch vor zehn Jahren so verdeckt war wie in Italien. Hinzu kommt, daß es nicht unsere Schuld ist, daß die Deutschen den Hölderlin produziert haben und den Bach.

Das Thema der Gewalt zieht sich unter dem Aspekt des Opfers durch viele Ihrer Filme. In dem Schönberg-Film „Moses und Aron“ steht der Konflikt der beiden Männer für den Übergang von der Opfergesellschaft zum Rechtsstaat. Das goldene Kalb unterliegt, Aron kann sich nicht durchsetzen.

Straub: Der opportunistische und trotzdem das Volk liebende Aron ist auch ein Opfer. Schönberg selbst hat gesagt, daß sein Moses unmenschlich ist. Das ist der Preis, den man für das Recht bezahlt. Auch die Frau in Von der Wolke zum Widerstand, die erschossen und verbrannt wird, die einfach nicht wußte, wohin sie gehört, ist ein Opfer - selbst wenn die anderen, die Männer, recht haben, bleibt es doch eine Hexenverbrennung.

Aber gerade in diesem Film geht es auch um den Widerstand gegen das Opfer. Im Kopf geblieben ist mir vor allem dieser Junge am Feuer, der sich gegen seinen Vater auflehnt und ruft: Nein, ich will nicht, ich denke nicht daran, Euer Opfer zu sein. Im „Tod des Empedokles“ dagegen verweigert sich Pausanias, der Junge, dem Opfer nicht. Er wird die Nachfolge des Empedokles antreten.

Huillet: Deswegen wird er auch von Empedokles ganz zum Schluß verurteilt.

Sie haben nicht nur einmal gesagt, der „Tod des Empedokles“ wäre das schönste Geschenk, das Sie den Deutschen machen konnten. Nun ist es nicht immer leicht, solche Geschenke anzunehmen.

Straub: Ja, das denke ich mir.

Was halten Sie von Berlins Gegengabe: Es gibt die berühmte Filmeinstellung mit dem Chaplin als Tramp - zusammen mit dem Jungen guckt er um die Hausecke, und hinter ihnen hat sich schon die Staatsgewalt, der Polizist, aufgebaut. Dieses Bild klebt zur Zeit überall in Berlin als Plakat mit dem Titel „Lieber raus auf die Straße als heim ins Reich“.

Straub: Haben Sie so ein Plakat? Schenken Sie uns eins.

Interview: Katharina Hoh / Fritz von Klinggräf