HÄUSER OHNE UNTERLEIB...

...und Küsse ohne Mauern  ■ K L E I N E R G R E N Z V E R K E H R 2

Das ist wohl gerade mal eine Woche her (oder zwei oder hundert?): Knallte die Nachmittagssonne durch blöde Wolken, als sich zwei an der Ersatzmauer an der Zimmerstraße entlang küßten und auf dem Todesstreifen frühlingsgierten. Die eigentliche Mauer war damals zwischen Checkpoint Charlie und Potsdamer Platz schon weg, weshalb dort auf diesem neuen Streifen begehbaren Niemandslandes zu spät gekommene Amerikaner ständig sich und andere fragten, wo the wall war, indessen die frischlustbandelnden bipolaren Liebesscharen (es waren ja doch viele unterwegs) sich noch einmal um so mehr aufregen mußten, als sie durch den aufgewühlten Grenzsand stapften, während sie sich schwer in die Münder schnauften und die Augen liebesdebil verdrehten und auch heimlich zur Seite rollten, weil sie ja schließlich etwas sehen wollten, das war doch alles neu hier, und das hätten sie sich schließlich niemals träumen können, daß das hier mal so sein könnte! Mit ihnen und mit der Stadt und mit der Leidenschaft und mit der Geschichte und mit der kommunistischen Weltmacht und mit der individuellen Ohnmacht, in die die Frau bestimmungsgemäß zu fallen sich wiederholt denken wollte. Sie fiel aber nicht, und es ging auch keine Tellermine hoch, wahrscheinlich hatte es hier sowieso niemals Tellerminen gegeben. Aber trotzdem: Vorstellen mußte man sich das, ob man wollte oder nicht.

Nur hinter dem Martin-Gropius-Bau stand noch ein Stück richtige Mauer, an der hart mit Hammer und Meißel gearbeitet wurde und die plötzlich anfing und plötzlich endete: eine Spanische Wand zwischen uns und dem Preußischen Landtag. Aus dessen oberen Stockwerken hätte man sie trotzdem sehen können, wie sie eine Weile im geschlossenen Hintereingang des Museums standen und zwischen den Steinfiguren, denen die Köpfe und die Gliedmaßen fehlten, miteinander rangen.

Ansonsten war die Mauer also wirklich weg. Am Potsdamer Platz hatten die Häuser auf einmal Unterleiber. Bisher war alles nur halb: nur die Dächer, nur die Köpfe. Alles andere war ausgeblendet, nicht da. Das hatte man bis dahin noch nicht einmal gemerkt.

Jetzt drückten sie sich an den durchsichtigen Drahtzaun, der dort aufgestellt worden war und der nichts mehr verbarg, und glotzten sich an und um: neuer Mann vor neuem Hintergrund, obwohl es den Mann wohl schon gestern gegeben hatte und die Häuser, die nur noch sein Körper verdeckte, wohl auch (nur daß sie alle irgendwie unauffällig waren).

An manchen Stellen gab es noch so eine Art Ersatzmauer hinter der richtigen Mauer, die die Lücken zwischen diesen verrammelten Ministerienbauten schloß und die, da jenseits des Todesstreifens liegend und bis jetzt vom Westen her nicht zugänglich, erst neuestens notdürftig bunt besprüht worden war. Sie hatte auch schon zwei große Löcher. Grenzverkehr: Durch! Dort war Ost-Berlin, die Hinterhöfe der alten verschachtelten Ministerienbauten mit nach Westen hin vergitterten und gardinierten Fenstern. Manche standen allerdings offen. Kleine Hintereingänge mit Holztüren, irgend etwas wurde auch hier verwaltet. Unten Stinkautos geparkt, oben Scheinwerfer an der Fassade, montiert zwecks sichernder Illumination des Endes der Ost-Welt. Hier schlichen sie um die Ecken und in die Winkel.

Im Westen hatten sie sich illegal geküßt. Hier im Osten fürchteten sich sich nicht mehr vor dem plötzlichen Auftauchen der jeweiligen Versprochenen, nur vor Karzer, Zuchthaus, Sibirien und davor, daß die daheim dann doch noch alles erfahren würden - die Frau hatte nämlich keinen Ausweis dabei. In einem dieser halben Höfe zwischen Gebäudewand und Ersatzmauer, hinter der immer noch irritierte Amerikaner standen vor einer Halde aus vergessenen rostigen Heizkörpern, die sicher irgendwo seit Jahren dringend gebraucht worden waren, verhakten sie sich sehr in ihre Jacken. Das dauerte ewig, bis sie auseinander waren, gut dreimal war der Aprilhimmel inzwischen schwarz geworden, und dreimal war die Sonne herausgekommen.

Ah! Das war also vor einer Woche. Das Küssen haben sie sich wieder abgewöhnt, und Grenzsoldaten haben angefangen, diese Ersatzmauer, durch die sie damals gegangen waren, abzureißen und durch einen Zaun zu ersetzen. Ihre Winkel, in denen sie ineinanderschlüpften, liegen nun offen und fremd da. Vor ihren verschwiegenen Rückseiten stehen jetzt die Amerikaner. Nur ihr Geruch hängt dort, wie überall, noch in der Luft. Zwei (oder vier oder zweihundert) finden, daß es in dieser Stadt nichts Heimliches mehr gibt, nichts mehr zu erkennen, nichts mehr zu erinnern.

Erfahrungsgemeinschaft schwäbischer Dichterinnen in West-Berlin e.V