OFFENE TÜREN

■ „Jelisaweta Bam“ von Daniil Charms und „Kuprijanov und Natascha“ von Alexander Vvedenskij in der Theatermanufaktur

Stellen Sie sich vor, es klopft an Ihrer Tür. Sie würden öffnen? Öffnen Sie lieber nicht. Es handelt sich um ein Telegramm? Lassen Sie es sich unter der Tür durchschieben! Man verlangt von Ihnen eine Unterschrift? Verweigern Sie sie. Öffnen Sie nicht. Bleiben Sie angespannt, auch wenn der Klopfer auf der anderen Seite der Tür seine Harmlosigkeit beteuert.

Aber - kein Zweifel, es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Klopfer die Tür sprengen werden. Abgesehen davon sind auf der Bühne sowieso alle Türen offen. Sie stehen verstreut wie die anderen Möbelstücke auf der Bühne herum, Schränke, deren Türen von selbst aufgehen und aus denen hin und wieder jemand herausfällt. Innenwelt und Außenwelt sind auf der Bühne in diesem Stück von Daniil Charms eins, weshalb Jelisaweta Bam genau weiß, daß ihre Gedanken an Flucht hoffnungslos sind. Zwei Herren sind gekommen, sie zu verhaften. Jelisaweta Bam (therapeutisch sanfte Beharrlichkeit in der Stimme), öffnen Sie die Tür! - Ich öffne nicht! - So öffnen Sie! Wir wissen ja, daß Sie zu Hause sind! - Ich öffne nicht! - Jelisaweta Bam (mitleidig), wenn Sie die Tür nicht öffnen, dann müssen wir es tun! - Was hab‘ ich denn getan? - Sie haben einen umgebracht! - Ich habe niemanden umgebracht! - Jelisaweta Bam, darüber entscheidet das Gericht! Kaum nötig, die Handlung des Stückes, das jeden Gedanken an säuberliche Chronologie über den Haufen wirft, nachzuerzählen: Die Herren verschaffen sich Einlaß, man plaudert, kommt einander näher, beginnt sich gemeinsam mit Mama und Papa Bam zu amüsieren, ein Wort gibt das andere, die Herren lassen sich sogar zu Darbietungen artistischer Kunststückchen hinreißen, Jelisaweta ist begeistert. Man kostümiert sich, clownt herum. Auf Sprache kann manchmal auch verzichtet werden, dann spricht man in Silben oder spielt ein Instrument. Obskurer Karneval, doch Papa, den Tod seines geliebten Töchterchens vor Augen, fordert den Mächtigen (einen der beiden Herren) zum Zweikampf heraus, den er zu seinen Gunsten zwar entscheiden kann, der ihm die Tochter aber nicht rettet. Mutter Bam wird über alledem verrückt. Die Herren kommen nun, in langen dunklen Mäntel wie am Anfang, um Jelisaweta endgültig zu holen: „Und jetzt, Jelisaweta Bam, spannen Sie feierlich Ihre Sehnen an...“ Der Rest der Truppe bleibt vorn auf der Bühne zurück, stumme, jederzeit reisefertige Beobachter einer düsteren Szenerie.

Hier wäre nun die Geschichte der Jelisaweta Bam zu Ende. Die Regie handhabt den Stoff freier, erweitert ihn zu einem Dialog von Alexander Vvedenskij: „Kuprijanov und Natascha“, die soeben ihre Gäste hinauskomplimentiert haben, wollen nun beieinander liegen „wie die Zander“. Sie ziehen sich langsam aus, auch „blakt“ die Kerze, die rechte Stimmung will aber nicht aufkommen, der Liebesakt mißlingt, Kuprijanov befriedigt sich auf einem nebenstehenden Stuhl, um dann aufzustehen mit den Worten: „So, fertig. Zieh dich an. Es dämmert vor sich hin der totgeglaubte Wurm.“ Je pathetischer sich die Sprachparodie gebärdet, desto deutlicher wird die kolossale Nichtbeziehung, die zwischen Mann und Frau besteht. Dabei ist letztlich vollkommen gleichgültig, wer hier wer ist: die Schauspieler tauschen ihre Rollen, jeder ist mal Mann, mal Frau, und auch die Regieanweisungen geben sie sich selbst an, indem sie sie laut mitsprechen, um sich so zu einem halbherzigen, nicht vollzogenen Striptease anzuleiten. Frauen, meint Kuprijanov, seien doch fast so etwas wie Menschen, am ehesten Bäume: „Leb wohl, Natascha, liebe Lärche ... ich verstehe nichts mehr. Er wird klein, kleiner, am kleinsten und verschwindet. Die Natur ergibt sich dem einsamen Genuß.“ Und dann ist Schluß mit dem Genuß.

Mit beiden Stücken hat das Moskauer Tschot Netschet Theater eine avantgardistische Theatertradition der späten zwanziger Jahre wieder aufgegriffen, die in der Sowjetunion die längste Zeit vergessen und verboten war. Beide Autoren zählen zum Kern der Gruppe Oberiu, der sogenannten „Akademie der linken Klassiker“. Mit der Aufführung der Jelisaweta Bam 1928 wurde die Gruppe mit einem Schlag berühmt. Ihr von Futurismus und Surrealismus beeinflußtes künstlerisches Konzept wurde als massiver Angriff „gegen die Diktatur des Proletariats“ geächtet, was zu einer endgültigen Auflösung der Gruppe im Jahr 1930 führte. Charms und Vvenskij starben beide unter ungeklärten Umständen in der Haft.

Zweifellos ist dem Regisseur Alexander Ponomarow (Jahrgang 1960) in der Kombination beider Texte und dem Hinzuziehen weiterer kürzerer Texte von Charms eine glänzende Textcollage gelungen. Die Schauspieler führen dieses Verwirrspiel souverän und virtuos vor. Alle nur denkbaren schauspielerischen Mittel werden hier zum Einsatz gebracht, sei das Akrobatik, Tanz, Gesang, Musik oder die verblüffend gute Koordination von Gestik und Text. Rollen werden getauscht, jeder Schauspieler könnte auch eine andere Figur sein, Männer sind Frauen, und Frauen sind Männer. Alles kann getauscht werden. Und doch dienen alle Mittel der Aufrechterhaltung eines konstanten Grundgefühls: eine latente Bedrohung hängt über allem und jedem. Es könnte jeden treffen, und an Flucht ist hier nicht zu denken. Sie verlassen das Zimmer, Sie gehen über eine Treppe und gelangen in eben jenes Zimmer, welches Sie vor 10 Sekunden verlassen haben. Sie finden das absurd? Aber so ist es. Jetzt hören Sie Schritte auf der Treppe. Es klopft. Es klopft an Ihrer Tür. Wenn es sich um ein Telegramm handelt, lassen Sie es sich unter der Tür durchschieben!

Felicitas Hoppe

Sa, 5.5., 19 Uhr, im Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur, Friedrichstraße 176-179, Berlin-Ost.