DDR-Umbruch: „Im Konsumieren liegt das Vergessen“

Der stellvertretende Direktor des neuen Friedensforschungsinstituts in Ost-Berlin über die Wende in den Köpfen  ■ I N T E R V I E W

Mitte. Seit vier Wochen gibt es in Berlin ein Institut für Friedens- und Konflikt-Forschung (IFK) an der Humboldt -Universität. Die taz sprach mit dem 2. Direktor, Prof. Bernd Löwe (47). Löwe war seit '87 Vorsitzender des Zentralen Arbeitskreises für Friedensforschung an der Humboldt-Uni, dem Vorläufer des IFK.

taz: Was hat der 9. November verändert?

Bernd Löwe: Die Arbeitsbedingungen. Ich kann jetzt das erste Mal in meinem Leben meinen Standpunkt auch so ausführen, wie ich möchte. Das Ritual der Pflichtzitate ist verschwunden.

Wie war es vorher?

In der Universität konnten wir ungestört arbeiten. Erst als wir an die Öffentlichkeit traten, wurden uns deutliche Grenzen aufgezeigt. Da haben wir schmerzliche Erfahrungen mit dem Establishment gemacht. Ich konnte unseren ausländischen Gästen nicht vorschreiben, was die sagen sollen. Die haben den inneren Frieden angesprochen. Da waren wir schnell bei den Menschenrechten in der DDR.

Der äußere Feind ist plötzlich weg. Was nun?

Zuerst einmal gibt es eine Leere. Denn vorher war vieles nur Reflex auf das andere Deutschland. Zur Politik gehörte offenbar eine Legitimationsideologie, die sich überhaupt nicht mehr nach Wahrheit und Redlichkeit bemessen ließ, sondern sich nach dem äußeren Konflikt zu bemessen hatte.

Was bedeuten diese Veränderungen für die Menschen in der DDR?

Das politische Selbstverständnis in der DDR ist zerbrochen. Ein bestimmtes Ordnungsgefüge im Leben ist verlorengegangen. Von solchen Prozessen versteht die Friedens- und Konfliktforschung von Haus aus eine Menge.

Wie kann Ihre Forschung helfen?

Es muß aufgearbeitet werden, wieso der Sozialismus vor den Problemen, mit denen er konfrontiert wurde, immer mehr zurückgewichen ist. Was hat wirklich an Geschichte stattgefunden? Unseren Historikerstreit kriegen wir erst noch. Doch dazu brauchen wir Distanz zu dem, was geschehen ist. Ich rechne mit etwa vier bis fünf Jahren, dann kommt das.

Was machen Sie in dieser Zeit?

Wir versuchen es aufzuarbeiten. Wer sich dieser Mühe nicht unterziehen will, geht zur Tagesordnung über. Das, was er gestern an stalinistischen Strukturen akzeptiert und eventuell gepredigt hat, macht er jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen. Ganz einfach angepaßt. Wendehals.

Wie werden die DDR-Bürger mit dieser Aufarbeitung zurechtkommen?

Manche werden damit überhaupt nicht zurechtkommen. Die reagieren regelrecht psychisch gestört. Einige aus der älteren Generation werden den dritten Umbruch nach Hitler und Stalin nicht mehr verkraften. Gegenwärtig treten alle die Flucht nach vorn an. Hauptsache die schnelle Mark - im Konsumieren liegt das Vergessen. Nach dem defizitären Leben sieht man die Fassade einer Gesellschaft, in der man alles kaufen kann: Schönheit, Intelligenz, Liebe.

Aber es werden viele durchs soziale Netz fallen...

Daß wir hier die Zweidrittelgesellschaft bekommen werden, ist keine Erfindung von Marxisten-Leninisten, das ist real. Und wir werden noch lange die häßliche kleine Schwester der BRD bleiben.

Aber wie werden die Leute damit zurechtkommen?

Wir werden einen stärkeren Rechtsradikalismus bekommen. Wenn ich hier kolonialisiert werde, versuche ich natürlich, andere zu kolonialisieren. Ich erwarte bald das erste Plakat, wo es heißt: Ich will wieder nach Schlesien. Denn dort bin ich Nummer 1, der Pole Nummer 2.

Wie schätzen Sie die Auseinandersetzungen auf dem Alex am 20. April ein?

Das ist nicht so neu wie man denkt. Schon seit einigen Jahren wird in Fanklubs Hitlers Geburtstag gefeiert.

Aber neu ist, daß sich Leute prügeln...

Geprügelt wurde vorher auch. Es wurde nur nicht zu erkennen gegeben, wer da prügelt. Aber es hat regelrechte Schlachten von Jugendlichen auf Massenveranstaltungen gegeben.

Ist der Neonazismus ein Versuch, die Lücke bei den Weltanschauungen zu schließen?

Natürlich. Ein No-future-Gefühl wird so aufgefangen. Ich halte das für ungefährlich für eine Gesellschaft.

Interview von Joachim Schurig und Dirk Wildt