Kein Ende mit Schrecken

In den USA zweifelt niemand am Sinn der Todesstrafe / In den Staaten, in denen die meisten Urteile vollstreckt werden, gibt es trotzdem die meisten Morde Auf das Bekenntnis zur Todesstrafe wagt kein Politiker im Wahlkampf zu verzichten / Kalifornien bestimmt den Trend  ■  Aus New York Henryk M. Broder

In Florida stirbt der Verurteilte auf dem elektrischen Stuhl. In Texas wird er aufgehängt, in North Carolina vergast, in Utah erschossen. In einigen Bundesstaaten kann er sich die Todesart aussuchen, in Missouri zum Beispiel hat er die Wahl zwischen der Gaskammer und einer tödlichen Injektion. Die Spritze, von einem Sanitäter appliziert, gilt als humaner. Dreizehn der 51 US-Bundesstaaten haben die Todesstrafe aus dem Gesetzbuch verbannt, in 25 Staaten gibt es sie zwar, es werden aber keine Todesurteile vollstreckt, in 13 Bundesstaaten wird verurteilt und exekutiert.

1972 wurde die Todesstrafe in den USA nach einer Fünf-zu -vier-Entscheidung des Obersten Gerichts für ungesetzlich erklärt und abgeschafft. Vier Jahre später erklärte dasselbe Oberste Gericht, wenn auch in anderer Besetzung, die Todesstrafe für gesetzlich und für sowohl mit der Menschenwürde wie der Verfassung der USA vereinbart. Seitdem sind 21 Todesurteile in Florida vollstreckt worden, 18 in Louisiana, 14 in Georgia und sieben in Alabama. Auf fünf Staaten mit knapp einem Fünftel der US-Bevölkerung entfallen Dreiviertel aller Hinrichtungen. Es ist nicht der Wilde Westen, wo der Staat das Faustrecht in eigener Regie betreibt, sondern vor allem der alte Süden, wo das Lynchen eine lange Tradition hat.

Freilich, ginge es nach dem Volk, wäre das Nord-Süd-Gefälle längst aufgehoben, gäbe es überall im Lande dieselben Verhältnisse. Nach einer Umfrage der 'New York Times‘ und der Fernsehgesellschaft CBS von Anfang April sind 72 Prozent der Amerikaner vorbehaltlos für die Todesstrafe. 1972 waren es „nur“ 57 Prozent der Befragten, 1976 erst 65 Prozent und 1988, während des Präsidentschaftswahlkampfs kletterte die Zahl auf die Rekordhöhe von 79 Prozent. Kein Zweifel, die große Mehrheit der Amerikaner ist dafür, daß dem Staat das Recht gegeben wird, Mörder zu morden. „Man kann nicht gegen die Todesstrafe sein und sich um ein öffentliches Amt in Florida bewerben“, sagt ein Berater des Gouverneurs Bob Martinez. Der republikanische Politiker betreibt den Wahlkampf um seine Wiederwahl mit einem Fernsehspot, in dem er sich damit rühmt, daß er „rund 90 Todesurteile in Florida bestätigt hat“. Der Generalstaatsanwalt von Texas Jim Mattox, der sich um seine Nominierung als demokratischer Kandidat für die Wahlen zum Gouverneur bemüht, macht mit dem Hinweis auf sich aufmerksam, er habe „32 Todesurteile durchgesetzt“.

Selbst im sonnigen und traditionell liberalen Kalifornien versucht Dianne Feinstein, ehemalige Bürgermeisterin von San Francisco, politischen Kredit mit der Behauptung zu gewinnen, sie sei der „der einzige demokratische Bewerber für das Amt des Gouverneurs, der für die Todesstrafe ist“. Was nicht ganz stimmt, denn ihr innerparteilicher Konkurrent, Staatsanwalt van de Kamp, ist zwar privat gegen die Todesstrafe, öffentlich aber entschieden dafür. Sein Wahlkampfspot zeigt die offene Tür zur Gaskammer, dazu erklärt ein Sprecher, Mr. van de Kamp habe als Bezirksstaatsanwalt und als Generalstaatsanwalt „277 Mörder in die Todeszelle gebracht“. Ende März, als in Kalifornien die Hinrichtung eines Doppelmörders bevorstand, gab Generalstaatsanwalt van de Kamp täglich eine Pressekonferenz, um den jeweiligen Stand der Dinge, das heißt die Bemühungen der Verteidiger um Aufschub und seine Gegenmaßnahmen, angemessen zu präsentieren. Bei diesen „Briefings“ wurden die Fotos aller zum Tode Verurteilten gezeigt, die in kalifornischen Gefängnissen auf den Vollzug ihrer Urteile warten.

Nur wenige US-Politiker wagen es, öffentlich gegen die Todesstrafe zu argumentieren. Mario M. Cuomo, Gouverneur von New York, hat mehrfach von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht und den Beschluß des Parlaments von Albany, im Bundesstaat New York die Todesstrafe wieder einzuführen, abgeblockt. Aber auch Cuomo, der als demokratischer Kandidat gegen Präsident Bush antreten möchte, hat angekündigt, er werde sein Amt als Gouverneur nicht dazu benutzen, Hinrichtungen zu verhindern, wenn das Parlament seine Vetos gegen die Einführung der Todesstrafe mit Zweidrittel-Mehrheit überstimmen sollte. Und Andrew Young, ehemaliger US -Botschafter bei den Vereinten Nationen und Ex-Bürgermeister von Atlanta, ein schwarzer Bürgerrechtler und Karriere -Politiker, hat seinen Widerstand gegen die Todesstrafe aufgegeben, seit er demokratischer Gouverneur von Georgia werden möchte. Zwar, gab er zu, seien Erziehung, Arbeit und Obdach die richtigen Mittel im Kampf gegen Kriminalität, dennoch müsse der Staat das Recht haben, „tollwütige Hunde zu erledigen“.

Die Diskussion um die Todesstrafe, wie sie derzeit wieder in den USA geführt wird, hat mit der Entwicklung der Kriminalität im Lande nichts zu tun. Glaubt man den Statistiken des Justizministeriums, ist die Kriminalität seit einigen Jahren rückläufig. Aus Veröffentlichungen des FBI geht hervor, daß in den 13 Staaten, in denen die Todesstrafe vollzogen wird, weit mehr Polizisten ermordet werden, als in den Staaten, die keine Todesstrafe kennen. Dasselbe gilt für die allgemeine Mord-Statistik. In US -Staaten mit Todesstrafe ist die Mordquote genau doppelt so hoch wie in den Staaten ohne Todesstrafe - 196 Morde auf eine Million Einwohner gegenüber 53 auf eine Million. Und ausgerechnet Florida und Texas, die Staaten mit den meisten Hinrichtungen, haben auch die höchsten Mordquoten.

Von der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe bleibt also nur der Wunsch, daß es so sein möge; andere Zahlen zeigen, worum es bei der Todesstrafe wirklich geht: Es ist ein Justiz-Lotto mit schwammigen Regeln. Jedes Jahr werden rund 20.000 Morde in den USA begangen. Die Chance, für eine Mord verurteilt und hingerichtet zu werden, liegt derzeit bei circa eins zu tausend. Aber manche Angeklagten haben bessere Chancen als andere. Nach Angaben der NAACP (National Alliance Against Capital Punishment) war die Hälfte der seit 1930 Hingerichteten farbig, obwohl der Anteil der Farbigen an der Bevölkerung nur etwa ein Viertel beträgt. Und von denjenigen, die seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahre 1976 hingerichtet wurden, hatten rund 80 Prozent einen weißen Mitbürger umgebracht. Wer also schwarz ist und sich an einem Weißen vergeht, hat vielfach bessere Aussichten, in die Todeszelle zu kommen, als ein Weißer, der einen Schwarzen umgebracht hat. „Es scheint, als würden unsere Gerichte das Leben der weißen Amerikaner höher bewerten als das Leben anderer“, meinte ein Sprecher der NAACP.

Zur Zeit sitzen über 2.000 Todeskandidaten in amerikanischen Gefängnissenund warten darauf, daß die Urteile vollstreckt werden. Die meisten nutzen die rechtlichen Chancen, die ihnen das System bietet, um die Hinrichtung so oft und so lange wie möglich hinauszuschieben. Manchmal kann ein solcher Kampf zehn Jahre und länger dauern. Robert Alton Harris, derzeit 37, wurde im März 1979 für den Mord an zwei Teenagern von einem kalifornischen Gericht zum Tode verurteilt. Nachdem sein Fall viele Male überprüft, von einem Gericht zum anderen gereicht wurde, schien Anfang dieses Jahres der Rechtsweg endgültig erschöpft. Der Hinrichtungstermin wurde auf den 3. April um drei Uhr morgens festgesetzt. Seit 23 Jahren war in Kalifornien niemand mehr hingerichtet worden, Harries wäre der erste gewesen, mit dem der Vollzug wieder aufgenommen worden wäre. Sein Tod in der berüchtigten Gaskammer von San Quentin hätte aber auch für viele andere Verurteilte das Todeszeichen bedeutet, weil in Kalifornien, wie es der Priester und aktive Todesstrafengegner Paul Sawyer sagt, „immer vorgeführt wird, wie der Trend ist und wohin sich die Gesellschaft bewegt“.

Der Trend wurde buchstäblich im letzten Moment gestoppt. 24 Stunden vor der vorgesehenen Hinrichtung bestätigte das Oberste Gericht der USA die Entscheidung eines Richters in San Francisco, daß die Hinrichtung vorerst aufzuschieben sei. Der Verteidigung sollte Gelegenheit gegeben werden, zu klären, ob der Psychiater im Prozeß gegen Harris möglicherweise psychische Defekte des Angeklagten übersehen hatte, die es dem Staat verbieten würden, ihn verfassungsmäßig korrekt zu exekutieren. Richter John T. Noonan vom neunten Gerichtsbezirk in San Francisco meinte, „niemand soll zu Tode gebracht werden, ohne daß dem Recht Genüge getan ist“.

Robert Alton Harris hat noch einmal eine Chance bekommen. Sollte er doch noch vom Leben zum Tode befördert werden, wird das mit Sicherheit im völligen Einklang mit dem Gesetz geschehen.