Das Sprechen über Vernunft

■ Ein Foucault-Kolloquium in Ost-Berlin

Fünf Monate nach Öffnung der Mauer wurde in der Ostberliner Akademie der Wissenschaften über Michel Foucault gesprochen. Daß das Sprechen über Vernunft nicht möglich sei, ohne zugleich die sozialen Bedingungen dieser Vernunft zu reflektieren, war eine Hauptthese des 1984 verstorbenen Franzosen, die ihre individuelle Wahrheit in den Vorbereitungen bereits erwies: Turbulenzen darüber, wer von den DDR-Philosophen denn nun zu Foucault sprechen solle, gingen voraus und rührten all die Schlacken von Karrieredenken, Absicherungswünschen und Universitätsgerangel wieder an die Oberfläche, die im vergleichsweise saturierten Wissenschaftsbetrieb der BRD nur den morastigen Untergrund des berufsmäßigen Denkens bilden. Die Entscheidung der Organisatoren Regina Benjowski (Akademie der Wissenschaften Ost-Berlin), Wilhelm Schmid (freier Philosoph in West-Berlin) und Alexander Dill (Philosophische Praxis West-Berlin), aus der DDR die Romanistin Gudrun Klatt (Ost-Berlin) und den Philosophen Volker Caysa (Leipzig) aufs Podium zu bitten, war eine Entscheidung für die Sache und gegen die Hierarchie, die sich als - vernünftig erwies.

In ihrer Begrüßung wies Regina Benjowski auf die Bedeutung Foucaults in der gegenwärtigen Phase der Umorientierung in der DDR hin, in der die Ablösung des marxistisch -leninistischen „Paradigmas“ ansteht. In dieser Suche nach neuen Orientierungspunkten spielt neben Jürgen Habermas vor allem die bisher untergründige Rezeption von Michel Foucault eine bedeutende Rolle. In der ersten Podiumsdiskussion über die Frage „Ist M.F. ein Aufklärer?“ wurde allerdings einmal mehr deutlich, daß es sich bei den beiden Autoren keineswegs um ein homegenes Paar handelt, das da aus dem Westen importiert werden soll. Axel Honneth hatte gleich zu Beginn die Grundeinwände vorgetragen, die aus dem Umkreis der „Frankfurter“ gegen Foucault beharrlich wiederholt werden, ohne daß die Diskussion der letzten Jahre bedeutende Fortschritte in dieser Hinsicht verzeichnen konnte: Im trivialen Sinne sei Foucault natürlich ein Aufklärer, der die vorausliegenden Bedingungen der Reflexion analysierte und so in der Tradition kritischer Aufklärung von Marx, Nietzsche und Freud liegt. Seine Detranszendentalisierung von Vernunft, sein Aufweis, daß sie ihren Sitz in den jeweiligen Handlungsnormen selbst hat, sei allerdings, so Honneth, von einem Impuls getragen, den Foucault selbst nicht mehr verdeutlicht. Foucaults zweiter Schritt im Rahmen der Aufklärung, die Detranszendentalisierung des Subjekts, das sich selbst nicht mehr durchsichtig ist und den Objekten seines Denkens nicht mehr in glatter Konfrontation gegenübersteht, werfe die Frage auf, wie - wenn Vernunft in die soziale Lebenspraxis eingelassen ist - totale Ideologiekritik noch möglich sei.

Wilhelm Schmid wandte demgegenüber ein, daß es eben nicht darum gehe, eine „totale Vernunftkritik“ zu üben, weil es Hauptanliegen Foucaults gewesen wäre zu beweisen, daß es „die“ Vernunft nicht gibt. Der vielbeschworene „Tod des Subjekts“ beziehe sich aber nur auf das „cogito“ - die Arbeit des Subjekts setze gerade in der Reflexion auf die eigenen Bedingung ein. Der Vorwurf einer „Überspannung des Programms“ (Honneth) entstammt natürlich einer Welt des Denkens, die gerade auf der intellektuellen Ausweisung der eigenen Normen besteht, wogegen Wilhelm Schmid geltend machte, daß man Foucaults politische Aktionen und Interviews mitberücksichtigen müßte und eben nicht in streng akademischer Tradition aus den Schriften allein eine „Position“ extrapolieren könne. Foucault sei gerade darin radikaler Aufklärer, daß er als Philosoph eine starke normative Position verweigere; in diesem Zusammenhang wäre auch die Tatsache zu sehen, daß er zwar über Ausgrenzungsprozesse und ihre Institutionalisierung (Gefängnisse, Kliniken) schreibe, sich aber nicht zum Sprecher der heute Ausgegrenzten mache, die ihre eigene Sprache finden müßten.

Volker Caysa hatte in dieser Auseinandersetzung (die grundsätzlich daran krankt, daß der eine die Frage nicht verstehen will, auf die er eine Antwort geben soll - und der andere genau diese Frage und keine andere stellen will) zumindest, mit Blick auf Heideggers „Man“, einen Ausweg aus diesem scheinbaren Widerspruch umrissen: Foucault wisse um die Unhintergehbarkeit des „Man“, das auch seinem eigenen Diskurs ontologisch vorausliege. Deshalb könne es nicht um eine begründete Legitimation seines Diskurses gehen, sondern allein um den permanenten Versuch, sich dessen Voraussetzungen zu stellen. Einige dieser Voraussetzungen hatte Walter Seitter in seinem, das Kolloquium eröffnenden, Vortrag „M.F.: Von den Geisteswissenschaften zum Denken des Politischen“ bereits namhaft gemacht: Foucault denke „egozentrisch“ und „ethnozentrisch“, die Gegenwart des Abendlandes stelle seinen zentralen Analysegegenstand dar. Die von Seitter konstatierte „Unvermeidlichkeit des Politischen“ bei Foucault leite sich konsequent aus der Tatsache her, daß Foucaults Geschichte der Wahrheit als eine Geschichte der Politik der Wahrheit auftrete, indem sie die Verwobenheit der Wahrheit in Machtverhältnisse aufdeckt.

Fran?ois Ewald (Paris) wollte in seinem Folgevortrag über „Ethik und Politik“ vor allem Foucaults neues Politikverständnis hervorheben, das eine Mikro- oder Alltagspolitik gegenüber der Revolutionspolitik, genauer: dem Verständnis von Politik als revolutionärem Akt, privilegiere. Foucault habe das Konzept der „Erhebung“ („soulevement“) als konstitutiv für Geschichte angesehen und so sei die These des „Endes der Geschichte“ zu verstehen: In einer gleichsam zu sich selbst gekommenen Demokratie, in der Politik zu einer öffentlichen Dienstleistung geworden sei, gebe es keine Erhebungen mehr, sei das Ende der Verknüpfung von Tugend und Politik (von der französischen Revolution bis 1968) erreicht. - Daß Ewald diese Thesen gerade im veränderten Ost-Berlin vortrug, machte die Klippen dieser Interpretation ironisch deutlich; schließlich handelt es sich bei einer Demokratie keineswegs um ein sich selbst reproduzierendes stabiles Gebilde, sondern um die fragilste Form politischen Zusammenlebens, die genau dann verkommt, wenn Politik zur öffentlichen Dienstleistung gesunken ist. So blieb beim wohlmeinenden Teil des verstörten Plenums die Vermutung zurück, es könne sich nur um Übersetzungsprobleme des ursprünglich französisch formulierten Vortrags gehandelt haben.

Die das Kolloquium abschließende Podiumsdiskussion zur Frage „Wie aktuell ist Foucaults Machtanalyse?“ litt wiederum unter einer intellektuellen Mutlosigkeit, die zumindest dem Vortrag Ewalds nicht vorzuwerfen war - wer einen Bezug zu den derzeitigen Ereignissen erwartet hatte, ging fehl. Michael Makropoulos konzentrierte seine Ausführungen um die grundsätzliche Frage, „was das Problem sei, das zu lösen moderne Gesellschaften beanspruchen“. Er bezeichnete dieses Problem als die „Möglichkeitsoffenheit“ der Gegenwart, zu dem die (politische) „Souveränität“ als Kernpunkt klassischer Theorie nicht mehr tauge. Modern seien hingegen die Steuerungsmechanismen von Disziplin und Versicherung: Disziplin als Maßnahme gegen die Offenheit der Gegenwart (und zwar verstanden als gesellschaftliche Normalisierungsstrategie wie auch als individueller Abwehrmechanismus) und Versicherung als das Prinzip, die Möglichkeiten nutzbar zu machen und im Schadensfall kompensieren zu können. Hinrich Fink-Eitel brachte ein gewisses Mißtrauen im Plenum gegen diese Ausführungen mit der Frage auf den Punkt, ob Makropoulos aufgrund intensiver Lektüre Niklas Luhmanns Foucaults Machtkonzeption nicht zu einseitig interpretiere. Gegenstand dessen Denkens sei keine Theorie der Macht, sondern ihre historische Analyse im genealogischen Sinne, und es ginge ihm nicht um das Subjekt als Teil der Gesellschaft, sondern um dessen Selbstmächtigkeit. Mit der von Dietmar Kamper eingeworfenen Formulierung, das Ich sei doch nur ein „Außenposten des Staates“ und der Übertrumpfung seitens Alexander Dills, Foucault sei „Descartes minus cogito“, trat die Debatte vorübergehend in die erschöpfte Phase des unfreiwilligen Kalauerns ein. Gudrun Klatt konnte diesen Prozeß unterbrechen; ihr war der Hinweis auf die literarischen und subversiven Elemente des Denkens von Foucault vorbehalten, worauf aus Zeitgründen leider niemand mehr eingehen konnte.

Die Veranstaltung litt unter der Überbordung des Programms, und sie war insoweit für die Diskussion um Foucault kennzeichnend, als die sozialwissenschaftliche und historisch-empirische Verankerung seines Denkens einem philosophischen Diskurs geopfert wurde, der sich selbst ungern verankern läßt. Durch die allzu abstrakte Diskussion seiner Thesen wird weder deren empirische Relevanz verdeutlicht noch eine befriedigende Entscheidung über ihre Triftigkeit erreicht. Auch in der Foucaultdiskussion scheint sich mittlerweile die Einsicht breit gemacht zu haben, daß theoretische Dunkelheiten mit um so längerer Diskussionsbereitschaft prämiert werden. Sie kommt so dem Versuch gleich, die Psychoanalyse ohne die Neurosentheorie zu behandeln: Man kann sehr lange über Ich, Es und Über-Ich sprechen, ohne die Frage zu berücksichtigen, wie Freud zu diesem Modell kam - aber das wird nicht sehr ergiebig sein. Mehr Hoffnung gibt eine für den Sommer in West-Berlin geplante Veranstaltung, die sich über fünf Tage erstrecken und „Foucault und die Künste“ zum Thema haben soll.

T. Schäfer/E. Schmitter