Wer schmeißt denn da mit Lehm?

■ Die große Klappe und viel Kleinkariertes auf der 2. Münchner Musikbiennale

Elisabeth Eleonore Bauer

Alle lieben den Hans. Der Hans, der kann's. Er „springt winkend aus dem Taxi und führt uns ins Haus“. Er verbreitet „Wärme und Freundschaft“ sowie „Sensibilität und Intelligenz“. Ihm zu begegnen „erfüllte mich mit Stolz und Ehrfurcht zugleich“. „Ich machte einen Freudensprung“ und „war sehr glücklich“, dabei aber auch „schrecklich aufgeregt“. Immerhin ist er einer „der besten Komponisten unserer Zeit“. (Sämtlich Bekenntnisse von „jungen Nachwuchskomponisten“, dokumentiert in dem üppigen Programmkatalog zur zweiten Münchner Biennale, käuflich für nur 15 DM.)

Hans Werner Henze hat's geschafft. Vor zwei Jahren ein Internationales Festival für neues Musiktheater ins Leben gerufen, wie man so schön sagt, und schon pulsiert es. Jede Menge junge Leute, alle Nase lang edles Design in Blutrot und Ebenholz, das Emblem, die Plakate, viel Papier vom Feinsten. Im PR-Büro wird Profiarbeit geleistet. Das Geld der Sponsoren fließt, die Stadtväter freuen sich, die Schirmherren schirmen, Berühmtheiten wie Berghaus oder Berio schaun vorbei und setzen der Sache ein Lichtlein auf. Und der musikalische Nachwuchs, angetreten zum Wettbewerb um die Preise, die verliehen werden von den Bayerischen Motorenwerken, ist durchweg dankbar, stolz, glücklich, aufgeregt usw., siehe oben. Fünf abendfüllende Opern und sechs Marionettenstücke mit Musik, als Rahmenprogramm Ballett-, Jazz- und Straßentheater, Artistik, Konzerte, Wissenschaft sowie eine Werkstatt für Amateurkomponisten. Ausgewählt und betreut wurden die Wettbewerbskandidaten von Hans Werner Henze, die Idee für das jeweilige Auftragswerk und zuweilen gar die konkrete Aufgabenstellung stammt von Hans Werner Henze - Henze ist hier und dort und überall. Eine wahrhaft stramme Leistung. Der liebenswürdige Altstar der Neuen Musik hat sich über Jahr und Tag zum umjubelten Jungscharführer gemausert und aus München wieder eine Stadt der Bewegung gemacht.

Die Bewegung ist im Begriff, sich zu formieren, die „Grundidee“ der Biennale und überhaupt „des ganzen Unternehmens“ wurde, wie verlautet, „weiterentwickelt“: Es handelt sich, kurz gesagt, um ein positives Bekenntnis zur musikalischen Postmoderne. Henze entdeckte nämlich zu seiner eigenen Überraschung: „Nebenbei habe ich, ohne daß ich oder ein anderer es bemerkt hätte, (...) bereits in den fünfziger, sechziger Jahren die Postmoderne der Musik erfunden. Ich bin schlankweg mit ihr auf die Welt gekommen.“ (Zu 'Welt'-Geitel am 30.April). Was nun aber das Musikalisch-Postmoderne eigentlich ist, wird nicht verraten, und zwar mit gutem Grund: Die jungen Leute von heute sind ja so frank und frei und pluralistisch, in ihrer Musik ist alles, aber auch wirklich alles, erlaubt und erwünscht. Und so ergibt „eine geradezu verwirrende Vielzahl von Auffassungen, Erscheinungsformen und Mißverständnissen“ (Henze) in summa irgendwie so etwas wie „Postmoderne“. Aber hoppla: Kurz bevor das Schlagwort endgültig im Wohlstandsmüllschlucker verschwindet, ward's gerettet und noch einmal zum Guten gewendet.

Natürlich braucht die Münchner Biennale wie alle Bewegungen außer Leitbild und Leithammel auch noch einen Sündenbock: Wer hätte das gedacht, es ist die miese, fiese „Moderne“. Oh, wie haben wir unter ihr gelitten seit nunmehr vierzig Jahren, und „noch immer sorgen Erinnerungen und Nachklänge an die damaligen Theorien und Forderungen bei jungen Leuten alptraumhaft für Befangenheit, Beklommenheit, als ob die ästhetischen Tagesbefehle der Musikideologen und Sittenpolizisten von damals (...) noch immer einschüchtern, beeinflussen und beirren könnten“ (Henze). Namen, Bücher, Menschen, Noten sind vorläufig noch nicht zum Abschuß freigegeben. Doch ein dreitägiges musikwissenschaftliches Symposion in München soll die Sache kritisch prüfen. Die „Auseinandersetzung wird immer dringender“, so echot der Veranstalter Siegfried Mauser, „da einerseits Vertreter der jungen Komponistengeneration deutlich von den Maximen der Moderne Abstand nehmen und andererseits Komponistenpersönlichkeiten der jüngsten Geschichte, die bislang nach den Kriterien des Moderne-Bildes (...) als skurrile Außenseiter galten, ins Zentrum des aufführungspraktischen (...) Interesses rücken“.

Das klingt wirklich dramatisch. Aber nehmen wir nur mal an, es handele sich bei den Vertretern der jungen Komponistengeneration um die Biennalejungschar, bei der geheimnisvollen Komponistenpersönlichkeit aber um Henze selbst: Schon ist alles nicht mal halb so wild. Denn für einen skurrilen Außenseiter ist Henze doch seit über vierzig Jahren außerordentlich erfolgreich und anerkannt, ja geradezu etabliert (was nicht verwerflich, sondern erfreulich ist, nur: Warum schmeißt er jetzt vom hohen Roß herab mit Lehm?). Auch machen die von ihm auserwählten Nachwuchskomponisten in ihren Werken durchaus keinen schüchternen Eindruck. Ganz im Gegenteil: Die ersten vier Uraufführungen des Festivals bezeugen wieder einmal aufs schönste, daß die musikalischen Errungenschaften der verteufelten Moderne längst selbstverständlich eingemeindetes Kulturgut sind. Und bei Lichte besehen, ist ja sogar der vielbeschworene Sündenbock nur ein Papiertiger: Nehmen wir mal an, gemeint sei das „Dogma“ der seriellen Musik. Als Dogma hat es schon seit Ende der fünfziger Jahre abgedankt, und die Komponisten Boulez, Stockhausen, Nono gehen längst andere, neue und eigene Wege. Sollte mit der musikalischen „Sittenpolizei“ aber möglicherweise die ästhetische Theorie gemeint sein, dann möchte man doch eher dafür plädieren, daß für die wenigen verbliebenen „Erben Adornos“ und für diejenigen, die es immer noch wichtig finden, über Musik nach- und ihre Geschichtlichkeit mitzubedenken, heute ein Reservat eingerichtet werden muß.

Das Geplapper von der Postmoderne, wie es derzeit aus den subventionierten Papierbergen der Münchner Biennale '90 dringt, hat jedenfalls weder mit der Musik noch mit ihrer jüngsten Geschichte irgend etwas zu tun. Soviel zur großen Klappe. Abends im Saal gab es dann vorläufig vorwiegend Kleinkariertes. Die neu begründete Marionettenschule der Münchner Biennale zeigte erstens eine Produktion mit adrett gefalteten Papierservietten, die, von miserabler Filmmusik untermalt, mit der gestischen Ausdruckskraft von, nun ja, gefalteten Papierservietten auf und ab sowie seitwärts bewegt wurden (laut Programmheft handelte es sich um ein chinesisches Märchen). Zweitens ein Stück, in dem zwei gerasterte Pappkunstköpfe, in ähnlicher Weise bewegt und hübsch beleuchtet, zu minimalistischer Musik die Geschichte von Judith und Holofernes symbolisierten. Da es in dieser Geschichte vor allem um den Kopf des letzteren geht, reichte das auch völlig aus.

Der größte Bahnhof bei der Biennale wurde bislang der Oper „Patmos„ von Wolfgang von Schweinitz bereitet. Ein Auftragswerk, das auf jeden Fall außer Konkurrenz laufen sollte: denn erstens hat Schweinitz es ja doppelt so lange bebrüten dürfen - ursprünglich war das Stück schon bestellt für die erste Biennale vor zwei Jahren. Zweitens stand ihm dabei für die Einrichtung des Textbuchs nicht irgendein No -name-Nachwuchs, sondern niemand Geringeres als der rasende Hölderlinexperte D.E.Sattler zur Seite. Drittens stammt das Libretto, wenn man der Legende glauben darf, sowieso konkurrenzlos von IHM persönlich, denn „Patmos„ ist die bibeltreue Vertonung der Offenbarung des Johannes, der ja bekanntlich die Stimme seines Herrn auf der Insel Patmos aus einer Felsspalte tönen hörte und dann die Worte nur noch niederschrieb. Viertens endlich wurde die Uraufführung vom Regiestar Ruth Berghaus besorgt, die man auch nicht mehr so recht zum Nachwuchs rechnen kann.

„Patmos„ war also wahrhaftig ein fetter Brocken. Und er blieb allen Beteiligten im Halse stecken. Schweinitz zum Beispiel hat so postmodern pluralistisch in die Partitur hineingestopft, was nur zu haben war: Modali-, Tonali-, Polytonalität, Gregorianik und Dodekaphonie, ganz zu schweigen von exzessiv freiem Kontrapunkt -, daß den Hörern das Zuhören binnen kurzer Zeit gründlich verging. Dergestalt, daß die Argloseren einschliefen (hinter mir fiel tatsächlich jemand von der Bank), die Experten aber (und zwar wider besseres Wissen auch noch nach dem Blick in die Noten) jeden Eid darauf geleistet hätten: diese Musik bestehe nur aus Quarten und nur aus einem einzigen monotonen Taktmuster. Das ist gewiß eine achtenswerte Leistung: mit einer musikalischen Materialschlacht sondergleichen ein Minimum an Musik zu erzielen.

Dramaturgisch hat Sattler die apokalyptische Story vom Buch mit den sieben Siegeln verteilt in sieben Akte und den Text auf zwei Engel der Geschichte, ein Vokalquartett, zwei Terzette und einen arg strapazierten Kinderchor. Der heilige Johannes aber ist, vermutlich damit er mit sich selbst im Duett singen kann, doppelt besetzt, der dreieinige Gott dagegen singt tiefen Baß und heißt Mr.X. Von den schönen wilden Worten war bei der Uraufführung leider nichts zu verstehen, von der archetypischen Phantastik der apokalyptischen Bilderwelt auf der weiten Bühne nichts zu sehen. Berghaus setzte wie schon so oft auf die kühle, klare These, daß nur das Design das Bewußtsein bestimmt, ließ eine Art parafaschistoide Kadettenanstalt aufmarschieren, in der allerhand Gemeinheiten passierten - und bekümmerte sich wenig um den Text und kein bißchen um die Musik. Das gab mitunter nette Verfremdungseffekte: so etwa, wenn der Komponist pünktlich zu den Worten „da redeten sieben Donner“ mächtig aufs Schlagwerk dreschen ließ und „Finsternis“ vorschrieb, die Schulklasse auf der Bühne aber derweil gelassen in hellem Lichte die Bettlaken zusammenlegte.

Viel aufgequirlter Lärm also um nichts. Wie wohltuend altmodisch ernsthaft dagegen jene andere neue Oper mit dem schönen Titel „Seid still„, wie wundersam modern die Musik dazu vom Budapester Komponisten Andras Hamary. Allein die Idee zu diesem Stück ist mindestens soviel wert wie die ganze kostbare Patmos-Mannschaft zusammengenommen. Es fängt an als Sprechtheater: Eine kleine Dorfgemeinschaft in Ungarn hält fest zusammen, die Köpfe eingezogen, und überwintert so den Zweiten Weltkrieg. Dann kommt Post aus dem Felde von einem geliebten Sohn - und bald darauf dessen vorgesetzter Major auf Fronturlaub. Schon bei der Ankündigung des „lieben Gastes“ fallen die ersten Töne: irgendwoher aus den schwarzen Wänden ringsum, ein rhythmisches Klopfen, aus dem dann allmählich die nervöse Melodik wächst. Der Major trifft ein: Er ist schwer neurotisch, verträgt weder Geräusche noch Gerüche - aber er singt. Kann sich nur im Belcanto verständigen, kann nur Gesungenes verstehen. Und in dem Maße, wie er die Familie samt Dorfgemeinschaft unterjocht und gefügig macht, wird aus dem Stück große Oper.

Es ist eine gespenstisch schöne Obsession: Wer singt, der lügt - oder er muß verrückt sein. Und alsbald singen sie alle - keiner, der nicht der uniformierten Macht in den Arsch kriecht, keine, die nicht die neue Ordnung willig akzeptiert. Sie decken sogar, wenn es sein muß, den willkürlichen Mord an einem der Ihren - solange es nur sie selbst nicht erwischt, solange es nur jenem guten fernen Zweck dient: daß der Sohn an der Front doch bitte davonkommen möge und in die Schreibstube versetzt wird. (So falsch wie nichtig, denn der ist, wie sie alle ahnen, längst gefallen.) Diese Oper ist eine tragikomische Klamotte, eine Spießerkomödie, die sich ganz genauso gestern oder morgen, hier oder drüben jederzeit abspielen könnte: „Seid still, es wird nicht mehr lange dauern.“ Um jeden Preis. Und am Ende, als der Krieg vorbei ist und die Russen kommen, werden nur die Winkelemente ausgetauscht und wieder machen alle mit.

Das Libretto hat Jose Vera Morales geschrieben nach der Komödie „Totek„ von Istvan Örkeny: eine kafkaeske Parabel, ein Lehrstück darüber, wie Macht funktioniert und wie aus Menschen Mitläufer werden. „Seid still„ wendet sich an den messerscharfen Verstand und nicht ans Gefühl Identifikation oder gar der kathartische Effekt zur Besserung, den die Oper doch eigentlich braucht, hat da eigentlich keinen Ort. Lehrstücke dieser Art werden ja auch üblicherweise als Singspiel vertont in kühler Ironie. Andras Hamary aber hat die unglaubliche Mischung gewagt

-glasklare Kabarettmusik geschrieben, die den Irrwitz beim Wort nimmt, und zugleich hochexpressive elegische Oper - und er hat damit gewonnen: zuweilen, etwa in dem süßharmonischen Schlafliedchen für den Major, klirrt die Musik nur so vor Boshaftigkeit, aber sie kann auch wieder teilnehmend sein und zärtlich - warm um Verständnis werbend für all die Ärmsten, die da gerade dabei sind, freiwillig den Verstand zu verlieren.

Bedauerlicherweise ist die Regie nicht mutig genug gewesen, sich darauf einzulassen: Sie setzte auf die eine, die einfache Lösung und inszenierte das Lehrstück in der Pappschachtel. Der Schluß wurde sogar, was sich bei Uraufführungen eigentlich von selbst verbietet, geändert, entschärft, und damit völlig verhunzt. Ein Grund mehr, „Seid still„ so bald wie möglich anderswo noch einmal aufzuführen.

Heute abend findet in München die Voraufführung zur dritten Biennale-Oper - „Traumpalast '63„ von Hans-Jürgen von Bose - statt. Berghaus, Schweinitz samt „Patmos„ wandern heute abend nach Kassel weiter. Und Maestro Henze ist von München nach Berlin geflogen, weil die Deutsche Oper dort heute seine neueste Oper 'Das verratene Meer' präsentiert. Jede Menge Bewegung auf dem Musiktheater.