Die Westler taxieren schon Klein-Glienicke

■ Die Oase am Griebnitzsee war bis zur Maueröffnung Genossen-Enklave / Wohnrecht bis dahin nur für verdiente Genossen / Doch die Idylle täuscht, denn unter dem Sand liegt das Gift des Kalten Krieges / Das Bürgerkomitee übt sich in Basisdemokratie, aber die Bewohner setzen auf die PDS

Potsdam. Den kleinsten und putzigsten Grenzübergang in und um Berlin gibt es „Am Waldrand“, nahe der Königstraße. Er führt nach Klein-Glienicke am Griebnitzsee. Die Grepos haben auf dem ehemaligen Todesstreifen Blumen gepflanzt, tapfer wachsende Primelchen, eingebettet zwischen runden Steinen. Die Botanisiererei soll aber nicht nur die Grenzgänger erfreuen, sondern dient auch einem ganz handfesten Zweck. Gedeiht die Vegetation, so haben die Grenzer bewiesen, daß das Ödland zwischen den Mauern so kontaminert nicht sein kann, wie es die lokale Bürgerinitiative behauptet. Klein -Glienicke ist eine Oase, heute noch, und ein Ort mit einem ganz besonders bizarren Mauerschicksal. Es ist das östliche Pendant zu Steinstücken, eine DDR-Enklave mitten im Westberliner Gebiet. Die Mauer riegelte die Ortschaft mit den alten prachtvollen Landhäusern völlig von Wald, Schloß Glienicke und See ab.

Der einzige Zugang über fast dreißig Jahre hinweg blieb eine schmale Brücke über den Kanal nach Neu-Babelsberg. Die gefährliche Nähe zu West-Berlin mußte der Flecken teuer bezahlen. Um die Grenzanlagen übersichtlich zu halten, wurden zwischen 1961 und Anfang der achtziger Jahre Dutzende von Villen abgerissen, in die Erhaltung der übriggebliebenen Häuser keinen Pfennig gesteckt.

Die Bewohner wurden einer strengen Sicherheitskontrolle unterzogen, wer unzuverlässig erschien und noch arbeitsfähig war, mußte den Ort verlassen. Ein neues Wohnrecht erhielten nur verdiente Genossen, viele Stasibüttel waren darunter. Unbequemlichkeiten mußten alle hinnehmen. Die Brücke durfte nur mit Grenzausweis passiert werden, Besucher mußten sechs Wochen vorher ein Visum beantragen. Der „Schutzwall“ sperrte die Einwohner auch von der sozialistischen DDR ab.

Jörg Wesarg, 33, von Beruf Diplomingenieur beim Reichsbahnausbesserungswerk Potsdam, lebt seit 1987 in Klein -Glienicke. Bis Ende November war auch er Genosse. Wäre er es nicht gewesen, hätte die Stasi den Umzug der fünfköpfigen Familie vom dreckigen Leipzig an „die saubere Mauer“ nicht genehmigt. Ein Jahr hatte die Sicherheitsüberprüfung trotzdem gedauert. Die Kollegen im Betrieb fanden es „verrückt“, ausgerechnet in das Genossengefängnis zu ziehen, jetzt wird er beneidet.

Klein-Glienicke ist attraktiv geworden nicht nur für DDR -Bürger. Täglich erscheinen solvent aussehende Westler, taxieren mit Kennerblicken die Grundstücke, erinnern sich, ja hier stand einmal das Haus meiner Vorfahren. Unsicherheit ist in den Ort eingezogen, und die neuesten Erlasse der Regierung, den Zwangsausgewiesenen das Rückkehrrecht zu gestatten, vergrößert sie noch. Auch für Jörg Wesarg ist die Zukunft ungewiß.

Er engagierte sich nach dem Parteiaustritt in einer lokalen Bürgerinitiative, die sich dem Umweltschutz verschrieb und heute mit der Potsdamer Umweltgruppe Argus zusammenarbeitet. Die Oase Klein-Glienicke ist längst keine mehr. Die Abwässer fließen ungeklärt in die Griebnitz, der See ist biologisch tot. Das Mauergelände ist vergiftet. Der Tourismus soll gefördert werden, aber Autoverkehr verträgt der Ort nicht. Die Mauer muß weg, aber das Ufergelände des Sees soll als Naturreservat erhalten bleiben.

Aber nicht nur ökologische Probleme gibt es zu lösen. Ungeklärt ist bis heute, wem die Häuser gehören, die die Kommunale Wohnungsverwaltung in Potsdam an die Genossen vermietete. Völlig unbekannt sind die Grundstücksverläufe, die Abrißorgie fand ohne Pläne des Katasteramtes statt. Wo können kommunale Einrichtungen geplant werden, ohne daß Westbesitzer kommen und sagen, nein, da will ich wieder mein Haus hinstellen?

Die Bürgerinitiative hat sich deshalb für ein „Bürgerkomitee“ eingesetzt, in der die vielfältigen Aufgaben verteilt und koordiniert werden. Jörg Wesarg ist im März zum Vorsitzenden gewählt worden und hat alle Hände voll zu tun. Ernüchtert hat ihn die Erfahrung, daß unter den neuen Verhältnissen jetzt wieder wenige viel für andere tun müssen.

Von Basisdemokratie ist in Klein-Glienicke noch nicht viel zu spüren. In den öffentlichen Versammlungen ist man unter sich, mehr als 30 Bewohner erscheinen selten. Die Mehrheit vertraut auf die Wahlen: die da oben werden es schon richten, haben es ja immer getan. Bei den Volkskammerwahlen vertraute die schweigende Mehrheit der PDS. 142 Stimmen hat sie erhalten, 116 die SPD. Die restlichen 61 Stimmen verteilten sich auf die CDU und die restlichen Parteien. Kommunalwahlkampf fand im Ort nicht statt, die Ergebnisse werden Potsdam zugeschlagen. Keiner weiß, welche Rechte der Ort für sich beanspruchen kann, ein Kommunalgesetz ist noch nicht verabschiedet worden. Jörg Wesarg wünscht sich ein selbständiges Stadtrecht. Aber das ist unrealistisch. Wahlprognosen wollte er nicht abgeben, er hofft für die Kandidaten des Neuen Forums. Ein PDS-Sieg würde ihn aber nicht überraschen, denn in Klein-Glienicke wohnen die, die gegen Kohl was zu verteidigen haben.

Anita Kugler