ALTE BÄRTE

 ■ K L E I N E R G R E N Z V E R K E H R 3

Das soll wohl Ulbricht sein?

Der junge bärtige Mann blickt auf.

Sein Nachbar in der Schlange vor der Wechselstelle Friedrichstraße, Hut und kurzer Tweedmantel, wiederholt: Das soll wohl Ulbricht sein? Oder Marx?

Lenin, antwortet der junge Mann und lächelt, Lenin. Er faßt seine Begleiterin am Arm.

Daß sie sich damit noch auf die Straße wagen. Und ins Fernsehen. Man sollte sie ihnen alle abschneiden, sagt der ältere Mann ziemlich laut.

Ein paar Leute in der Schlange drehen sich um.

Wissen Sie übrigens, was Marx für eine Religion gehabt hat, wendet er sich an die Begleiterin des jungen Mannes.

Ja, sagt sie, aber das ist kein Gegenstand der Erörterung.

Wenn Sie's nicht sagen, muß ich denken, Sie wissen es nicht. Also sagen Sie es doch.

Die Begleiterin wendet sich ab.

Der junge Mann hat ein eckiges Lächeln unter dem Bart.

Nicht mal die in Karl-Marx-Stadt haben es gewußt, sagt der ältere Mann immer lauter, daß Marx ein Jude gewesen ist. Er strafft seinen Rücken. Spricht geradeaus vor sich hin. Die SED in West-Berlin hat sich ja jetzt wohl auch aufgelöst.

SEW, korrigiert der bärtige junge Mann.

Den SEDlern sollte man verbieten, ihr Geld gegen D-Mark einzutauschen bei der Währungsunion.

Die Partei heißt jetzt PDS, korrigiert der bärtige junge Mann erneut.

Woher kommen Sie? Der Alte wendet ihm kurz den Kopf zu. Der junge Mann sieht das Hörgerät.

Aus West-Berlin, sagt die Begleiterin. Und Sie?

Ebenfalls aus West-Berlin. Komm‘ oft hier rüber. Der Alte schreit. Hab hier 'ne Menge zu tun.

Michaela Ott