KUNST AUS DER SPALTE

■ Die kalifornische Künstlerin Sue Dirksen in beiden Stadthälften

Die Kraft wächst aus der Ruhe: die Meditation, aus der die Arbeiten der amerikanischen Malerin Sue Dirksen hervorgehen, scheint auch die angemessene rezeptive Haltung vor ihren Bildern. Dirksen, die in Japan studiert hat und Ausstellungen japanischer Kunst in den USA organisierte, setzt die Techniken der Versenkung und des universalen Energietankens gegen Schnellebigkeit und medialen Overkill. Ihre Arbeiten sind kleine Kultstätten der Materie: Anhäufungen von krümeliger und samtiger Farbmaterie werden zu Zitaten der Erde. Sie benutzt braungefärbtes Japanpapier, das, zwischen Hölzern zerdrückt und davon wieder abgekratzt, eine organische Textur gewinnt.

Emergence (Auftauchen), ihre im „Laden für Nichts“ präsentierte Hauptarbeit, besteht aus dreizehn Tafeln, durch die sich ein Riß zieht. Das braune Japanpapier übernimmt die Vorstellung einer weiten Ebene, einer warmen, trockenen und hohen Landschaft, in der eine Kluft aufbricht. Das Schwarz, das aus der Spalte hervorquillt, wird zur sprengenden Kraft. Zu dieser Arbeit inspirierte Sue Dirksen der Besuch eines alten Zeremonieplatzes der Indianer in der Wüste Neu -Mexikos. In den Schöpfungsmythen der alten Amerikaner stiegen die Menschen durch einen Riß in der Erde aus ihrer ersten unterirdischen Welt in die oberirdischen Gegenden hervor. Dieser Mythos von der Hervorbringung des Lebens aus dem Schoß der Erde läßt sich auch in Dirksens kleineren Bilder wiederfinden: in allen bestimmt das Verhältnis des Randes zu einem sich öffnenden Kraftzentrum die Spannung. In einem leuchtend roten Spalt, der sich durch schwarzen Lack zieht, wird dieser Akt der Hervorbringung dann deutlich als weibliches Geschlecht stilisiert.

Doch leider ist dies der Wunder, die da aus der schwarzen Urmaterie hervordrängen, nicht genug. Daß während der Arbeit an dem großen Riß die Mauer in Berlin ideologisch und materiell zerstört wurde, gab Dirksen erstens den Anlaß, Emergence zuerst in Berlin zu präsentieren und zweitens ihre Arbeit als Menetekel zu mystifizieren. Assoziationen der fatalen und mythischen Art bieten sich an. Auf die deutsche Geschichte werden die Urkräfte des Universums projiziert. „Emergence is a monumental work for a monumental time in Germany's history“, verkündet Dirksen in einem begleitenden Pressetext.

Seit dem Beginn der realen Zerstückelung der Mauer flammt ihre Bedeutung als Projektionsfläche der Kunst noch einmal auf, sie feiert ihre Wiedergeburt auf den Wänden der Galerien. Ausländische Künstler haben sie als Thema schon immer geliebt; sie durchzog die Konzepte jedes zweiten bildenden Künstlers, der sich für ein DAAD-Stipendium bewarb. Die kalifornische Meditationsmeisterin Dirksen hat es gerade noch geschafft, mit dem Durchbruch der Mauer ihren entscheidenden Energieschub zu empfangen.

Nichts kam da gelegener als das Angebot von Wolfgang Krause, der zuletzt im „Laden für Nichts“ ausgestellt hatte, Sue Dirksen auch in seiner neu gegründeten „Galerie im Dreieck“ in der Ostberliner Oderberger Straße vorzustellen. Dort werden einige ihrer kleineren Arbeiten gerade ob ihrer unangestrengten Schönheit und der Abwesenheit jeglicher Botschaft genossen. Hier läßt sich dem ständigen Laborieren mit der Geschichte und der verkrampften Suche nach einer eigenen Position in den Bildern entkommen. Die Verklärung von Dirksens großer Arbeit als Monument bleibt dem westlichen Teil der Ausstellung vorbehalten.

Katrin Bettina Müller

Sue Dirksen „Emergence“, im „Laden für Nichts“, bis 9. Juni, Dienstag, Freitag und Samstag von 15 bis 19 Uhr; Sue Dirksen „New Work“ in der „Galerie im Dreieck“, bis 2.Juni, Oderberger Straße 6, 1058 Berlin.