Schlangestehen, Zettelfalten, ab in die Urne

Die Mehrheit der Wähler in der DDR hat das neue Demokratiespiel gelernt und ihre Chance vergeben  ■ K O M M E N T A R

Montag vor einem Jahr. Das 'Neue Deutschland‘ vermeldet den Sieg an der Wahlfront: „98,85 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front“. Schon am Wahlabend hatte Ex-FDJ-Chef Krenz als Vorsitzender der Wahlkommission alle Zweifel vom Bildschirm gewischt. Für all jene, die in den Wahllokalen die Auszählung verfolgten, ein Schlag ins Gesicht. War doch schon im Vorfeld dieser Urnengang '89 mit einer Hypothek belastet. Nicht nur in den aufmüpfigen Schluchten des Prenzlauer Bergs galt diese Wahl als letzte Möglichkeit, eine reformunfähige Führung auf „demokratischem“ Wege zur Einsicht zu bewegen.

Seit Gorbatschow in Moskau seine Stimme für den Obersten Sowjet im verborgenen abgab, waren nicht mehr nur die unentwegten Oppositionellen bereit, das Ritual zu durchbrechen. Demonstrativ gingen viele am Honecker-Bild vorbei in die Wahlkabine, viele blieben zu Hause. Doch zusammen waren diese Mutigen nicht mehr als zehn bis zwanzig Prozent. Der Rest erfüllte seine staatsbürgerliche Pflicht. Schlangestehen, Zettelfalten, ab in die Urne. Rund 80 Prozent - aus Gleichgültigkeit, Resignation, Opportunismus, kaum noch aus Angst.

Ein Jahr später ähnliche Zahlen. Landesweit entscheidet sich die Mehrheit für die Parteien nach bundesdeutschem Vorbild. Viele von denen, die gestern ihre Stimme gegen sozialistische Experimente oder für den Aufschwung durch Einheit abgegeben haben, standen noch vor einem Jahr vor dem Wahllokal, um die Begrüßungsblume zu empfangen. Und der Gemüsehändler, der damals mit den Einheitslistenporträts sein Schaufenster dekorierte, klebt heute über die Coca -Pyramide das DSU-Emblem.

In den letzten Monaten hat dieses Land nicht nur seine alte Führung verloren, sondern auch sein Gedächtnis. Die Millionen „Opfer“ stimmten ihre Klagegesänge erst an, als die „Täter“ schon an ihrer eigenen Politikunfähigkeit verendet waren. Nur wenige, die sich heute noch fragen, warum sie damals das absurde Spiel mitgetragen haben. Nicht genug, um der Schar der unverdrossenen Basisdemokraten die Rathaustür zu öffnen. Die Mehrheit hat das neue Spiel gelernt.

Andre Meier/ taz, Ost-Berlin