"Sie bedrohen unser Selbstbild"

■ Flüchtlinge und EmigrantInnen gehören zu den Opfern der deutschen Dominanzkultur/Verarmungs- und Deklassierungsängste galten bisher als Gründe für wachsenden Rassismus/Doch die Psychologin Birgit ....

taz: Bislang gilt fast unangefochten die These, daß Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot - also ökonomische Krisen und daraus resultierende Ängste - maßgeblich für Rechtsradikalismus und Rassismus verantwortlich sind. Ist diese Annahme falsch?

Rommelspacher: Ich will nicht sagen, daß das gar keine Rolle spielt. Es sind aber definitiv nicht die Hauptursachen. Wenn ich die Gegenfrage stelle: Was ist mit den Menschen, die materiell abgesichert sind, eine Wohnung und gute Arbeit haben, die eine relativ sichere Zukunft vor sich haben, dann muß ich feststellen, daß die für Rechtsradikalismus genauso anfällig sind. Empirisch berufe ich mich auf die Infratest-Studie von 1989. Da wurden „Republikaner„-AnhängerInnen und SympathisantInnen befragt, und man hat festgestellt, daß sie einkommensmäßig über dem Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung liegen. Bei den HauseigentümerInnen sind sie durchschnittlich vertreten also etwa die Hälfte der „Republikaner„-AnhängerInnen wohnen in ihren eigenen vier Wänden. Sie sind mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufriedener als SPD-WählerInnen oder WählerInnen der Grünen und sehen ihre wirtschaftliche Lage in der Regel optimistischer als die Wählerschaft aller anderen Parteien. Von daher halte ich die Defizitthese, wie ich das formulieren würde - also Erklärungen auf der Basis von Verarmungs- und Deklassierungsängsten - für sehr fragwürdig.

Futterneid und Angst vor materiellen Einbußen - auch wenn sie objektiv unbegründet ist - sind im Zusammenhang mit Fremdenhaß und Fremdenangst aber doch nicht zu leugnen?

Futterneid - das ist eine griffige und einfache Erklärung. Ich frage mich, wo der herkommt, wenn wir eines der reichsten Länder der Welt sind und andererseits eine der geringsten Annahmequoten für Flüchtlinge haben. Wie reich müssen wir denn werden, bevor dieser Futterneid gesättigt ist? Ich würde das vielmehr als Ausdruck einer Dominanzkultur sehen, die besagt, daß ich das haben muß, was mir zusteht - und das kann man bis ins Unendliche dehnen. Das bedeutet: Besitz weckt immer neue Begehrlichkeiten; Macht gebiert immer weitere Machtansprüche. Wenn ich dieses Denken, diese Dominanzkultur verinnerlicht habe, dann werde ich jede Verunsicherung, die mir durch Fremdes begegnet, mit den Mitteln dieser Dominanzkultur zu bewältigen versuchen. Und das erreiche ich entweder, indem ich das Fremde aus dem Weg schaffe - oder indem ich es soweit integriere, daß es in der Anpassung verschwindet.

Warum ist diese These bisher nicht diskutiert und untersucht worden?

Es hat eine bestimmte Funktion, daß sich alle auf das Erklärungsmuster der Defizitthese stürzen. Es sind nicht nur die Politiker, auch die Sozialwissenschaft ist völlig beherrscht von dieser These - alle Untersuchungen gehen in diese Richtung. Außer Verarmungs- und Deklassierungsängsten werden in der Regel noch Probleme wie Bindungslosigkeit, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst angeführt. Die Popularität dieser Defizitthese hat zwei Gründe: Wir können auf diese Weise das Phänomen dingfest machen anhand zweier Figuren: der des von Deklassierung bedrohten Arbeiters oder des männlichen arbeitslosen Jugendlichen. Auf den kann man das ganze Problem projizieren, um es dann mit Hilfe von Wohnungsbau, Sozialarbeit oder Polizei „in den Griff zu bekommen“. Diese These hat für alle Etablierten eine Entlastungsfunktion. Und zum anderen entlastet sie die nun identifizierten „Täter“, deren rechtsradikales Verhalten man zwar kritisiert, aber gleichzeitig versteht, weil es ihnen ja so schlecht geht. Die Argumentation der Täterentlastung kennen wir Deutschen seit der Nazizeit ja besonders gut. Davon abgesehen - Täterentlastung begegnet uns ständig bei der Gewalt gegen Frauen. Männern wird immer unterstellt, „sie konnten nicht anders, sie hatten soviele Probleme“.

Warum hat man sich in den Sozialwissenschaften bislang nicht mit dieser These auseinandergesetzt?

Weil es eben schon Ausdruck dieser Dominanzkultur ist, sich nicht in Frage zu stellen. Wir kennen das aus der feministischen Diskussion, daß Männer ihr Verhalten im Patriarchat nicht untersuchen - bis heute nicht. Wenn ich also zur dominanten Kultur gehöre, dann bin ich so von meiner Normalität durchdrungen, daß mir da gar keine Fragen in den Sinn kommen.

Was sind die typischen Merkmale einer Dominanzkultur?

Hans Jonas hat das in seinem „Prinzip Verantwortung“ sehr schön unter dem Begriff „Alexandersyndrom“ zusammengefaßt. Immer wenn Alexander, der sogenannte Große, an Grenzen zu etwas Fremdem stieß, hat er es per Krieg unterworfen - immer neue Grenzen, immer neue Machtgelüste und Ausdehnungen bis das Reich dann im Inneren zerfallen ist. Die Quellen unserer Dominanzkultur sind zum einen unsere ökonomische Überlegenheit, die uns glauben macht, wir seien auch kulturell und politisch und sonstwie überlegen. Die Parole des Kapitalismus ist ja ohnehin „Wachstum oder Niedergang“. Ein anderes zentrales Element sehe ich in der patriarchalen Kultur. Das erste Mal, wo Menschen mit Unterschieden konfrontiert werden, ist, wenn Mädchen bzw. Jungen merken, daß sie anders sind als Jungen bzw. Mädchen. Das ist eine prägende Erfahrung für jedes Kind, mitzubekommen, daß dieser Unterschied qua Hierarchisierung und qua Dominanz und Unterwerfung „bewältigt“ wird. Einen dritten Ursprung unserer Dominanzkultur sehe ich im Christentum, das ja immer von einem expansiven Missionsgedanken getragen war und immer schon einen erheblichen Assimilierungsdruck auf anderslebende und andersdenkende Menschen ausgeübt hat.

Ein Wirtschaftsminister Haussmann, der die DDR-Regierung im Bewußtsein der eigenen ökonomischen Überlegenheit für unfähig erklärt, ist also ein typisches Produkt unserer Dominanzkultur...

Unbedingt. Ganz allgemein äußert sich das in Selbstgerechtigkeit, in dem Gefühl: So wie wir sind, ist normal; alles andere ist nicht normal. Es äußert sich in Realitätsverleugnung. Alles was nicht in dieses ethnozentrische Weltbild paßt, wird einfach nicht wahrgenommen. Und es äußert sich in Angst und Selbstentfremdung. All das sind Elemente einer Dominanzkultur.

Opfer unserer Dominanzkultur sind die ImmigrantInnen und Flüchtlinge. Was oder wen bedrohen diese Menschen? Was stellen sie in Frage?

Sie erschüttern unser Selbstverständnis, daß unsere Lebensweise, unsere familiären Bindungen, unsere Religion die einzig wahre ist. Sie erschüttern ganz einfach den Mythos, daß wir eine hilfsbreite und christliche, humane Gesellschaft wären. Wir schicken Menschen einfach wieder zurück in Länder, in denen sie Folter und Tod erwartet müssen, anstatt sie aufzunehmen, wie es das christliche Selbstverständnis eigentlich verlangen würde.

Minderheiten sind also schon allein deshalb ein Störfaktor, weil sie unser Selbstbild in Frage stellen...

Und eben das Gefühl, unsere Lebensart sei die einzig Richtige. Dieses Gefühl trägt ja jeder mit sich herum, weil es letztlich auch ein positives Identitätsmerkmal ist. Plötzlich kommt jemand, der ganz anders lebt, der mir auch vorzeigt, welche ungelebten Lebensmöglichkeiten ich habe, mir also demonstriert, daß es ein begrenztes und borniertes Umfeld ist, in dem ich aufwachse. Und das wirkt bedrohlich.

In anderen Ländern, USA, Großbritannien oder in den Niederlanden, ist man zumindest in der theoretischen Diskussion um Minderheiten ein enormes Stück weiter. Warum hier nicht?

Da kommt immer das Argument, in den USA seien die Schwarzen sehr viel sichtbarer, sehr viel präsenter - in den Niederlanden und Großbritannien ebenfalls, weil sie größere Kolonialreiche waren als wir und so der Minderheitenanteil sehr viel größer ist, als bei uns. Das reicht als Erklärung aber keinesfalls aus. Ich sehe bei uns Deutschen als Hauptproblem, daß wir eine ganz massive Verdrängungskultur entwickelt haben seit der Nazizeit. Stichwort: Ralph Giordanos Die zweite Schuld. Solange wir Deutschen uns nicht mit unserer antisemitischen Vergangenheit auseinandergesetzt haben, solange werden wir auch kein annähernd bewußtes Verhältnis zu anderen ethnischen Gruppen haben. Diese Verdrängungskultur schlägt durch - auch bis in die heutige Forschung.

Hat die Linke eine Verdrängungskultur?

1968 kam ja etwas hoch - auch die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Wir hatten es aber auch sehr leicht, eine ganze Menge auf andere - auf die Amerikaner in Vietnam

-abzuschieben. Mit dieser Verschiebung konnten wir uns freimachen von unseren eigenen Belastungen. Die Linken mit ihrem Glauben, hier seien die Metropolen, von denen die Revolution ausgehe, waren ja auch voll von Ethnozentrismus.

Wenn man davon ausgeht, daß ImmigrantInnen und Flüchtlinge allein durch ihre Anwesenheit unsere Identität in Frage stellen, würde das ja bedeuten, daß wir überhaupt eine haben. Haben wir tatsächlich eine Identität?

Genau das ist das ganz große Problem, inwieweit wir als Deutsche eine kulturelle Identität - außer in der Form der Negation haben: entweder nur Scham und Verdrängung oder im anderen Extrem der Stolz, Deutscher zu sein. Wir haben keine durchgearbeitete Identität, indem eben die Verantwortung für die Geschichte übernommen wird. Da hier eine Leerstelle existiert, ist die Gefahr sehr groß, daß das ins Gegenteil umschlägt, also in die Verherrlichung des Deutschtums; zum anderen in progressiven Kreisen die Gefahr, über andere ethnische Gruppen diese Leerstelle zu füllen. Eine Art Umwegsidentität über andere Kulturen.

Ist denn eine kulturelle Identität Voraussetzung, um mit anderen Kulturen tolerant und souverän gegenüberzutreten?

So würde ich das schon sehen. Aber auch hier eine Einschränkung: Ich denke, daß unserem Identitätsbegriff, zumindest wie er in der Psychologie und Sozialpsychologie existiert, selbst schon die Dominanzattitüde anhaftet, als die These drin steckt: Eine gesunde Identität hat nur der, der seine Heimat nie verlassen hat. Also immer nur der, der in stabilen Verhältnissen, in einer stabilen Familie usw. aufgewachsen ist. Stabilität und Kontinuität gelten bei uns als unabdingbare Voraussetzungen einer gesunden Persönlichkeit. Mit diesen Mythen und Ideologien ist unsere Psychologie voll durchwirkt, die ja von einer seßhaften Kultur ausgeht. Dabei kann man zum Beispiel von Flüchtlingen und ExilantInnen sehr gut lernen, mit fremdartigen und neuen Situationen umzugehen, und das als Chance und Entwicklungsmöglichkeit begreifen. Das würde uns etwas von dem Element der Stabilität befreien, das ja auch etwas Bedrückendes ist. Die Identitätsentwicklung von Minderheiten ist überhaupt kein Thema hier. Keiner fragt, was es heißt, als Minderheit unter diskriminierenden Bedingungen aufzuwachsen.

Soll das heißen, wir ignorieren, daß diese Menschen Wege entwickeln, mit dieser Situation fertig zu werden?

Natürlich - allerdings sollte man schon genau hinsehen und nicht unbesehen romantisch verklären. Im übrigen gilt für die andere Seite: Der Preis der Dominanz ist hoch. Sie wird bezahlt mit Angst, mit der Gefahr der Erstarrung.

Was bedeutet vor dem Hintergrund dieser doch sehr ernüchternden psychischen Diagnose einer Nation, die sich jetzt auch noch anschickt, eine andere einzuverleiben, das Wort „multikulturell“?

Multikulturell - da muß man aufpassen, ob das nicht schon wieder ein Verdrängungsbegriff ist. Ob da nicht die Realität der Dominanz, des Kampfes, des Verdrängungswettbewerbes unter den Tisch fällt. Andererseits beinhaltet der Begriff für mich immer noch ein utopisches Moment - das Moment des Zusammenlebens verschiedener Kulturen. Das Zusammenleben besteht aus einem ständigen Gegeneinander und Miteinander einer ständigen Auseinandersetzung. Allein kann der Begriff aber nicht stehen, weil gleichzeitig auch der Rassismus benannt werden muß und die antirassistische Arbeit, die notwendig ist, um ein solches Zusammenleben überhaupt möglich zu machen.

Bei der Frage der Dominanzkultur taucht aber auch ein Widerspruch auf: Denn diejenigen, die verbal immer miteinbezogen werden - die Aus- und ÜbersiedlerInnen werden zunehmend Opfer dieser Dominanzkultur. Auf die kommende Vereinigung bezogen könnte das - mal überspitzt formuliert - bedeuten: 60 Millionen gegen 16 Millionen...

Zum einen muß man sagen, daß die Deutschen im ehemaligen Ostblock auch bereits eine Dominanzkultur entwickelt hatten. Sie galten ja schon als die ökonomisch Stärksten. Die geraten in eine eigentümliche Situation, wenn sie jetzt in die diskriminierte Position kommen. Das bei ihnen gelernte Dominanzverhalten üben sie dann vermutlich verstärkt gegenüber anderen Minderheiten aus. Dieses enorm polarisierende Freund-Feind-Denken in vierzig Jahren DDR, diese Selbstgerechtigkeit des „richtigen Weges“ waren und sind zentrale Säulen einer Dominanzkultur in der DDR. Das kann sich jetzt enorm verschärfen durch ihre Diskriminierung hier. Andererseits haben diese Menschen genau diese Selbstgerechtigkeit mit einer friedlichen Revolution in Frage gestellt. Vielleicht kann das nutzbar gemacht werden.

Aber angesichts der politischen Entwicklung dieser Revolution scheinen die VerliererInnen jetzt schon feststehen - die ImmigrantInnen und Flüchtlinge...

Das sieht schon düster aus, und die Angst ist inzwischen auch sehr groß. Diesen „Dominanzschub“, den die Deutschen da mit neuer Großmannsucht und Nationalstolz durchmachen, führt bei den anderen zu dem Gefühl, noch mehr ausgegrenzt zu sein. In diesem Zusammenhang finde ich es immer wieder frappierend, wie früher immer argumentiert wurde: Wir haben kein Geld und keine Wohnungen für die AusländerInnen oder Flüchtlinge - und plötzlich spielte dieses Argument bei Aus und ÜbersiedlerInnen keine Rolle mehr.

Gespräch: Andrea Böhm