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Seher Sindermann

■ Vor seinem Tod behauptete der Ex-Volkskammerpräsident DDR-Truppen seien 1968 nicht in die CSSR einmarschiert

Berlin (taz) - Zunächst war der 'Spiegel‘ auf der falschen Fährte. Glaubte, sein Interviewpartner, der Ex -Volkskammerpräsident Horst Sindermann werde mit seinen letzten Worten über die Wende in die Geschichtsbücher einziehen: „Es war als rutschten 40 Jahre Sozialismus plötzlich unter unseren Füßen weg.“ Der alte Mann antwortete sechs Tage vor seinem Tod weder historisch noch auflagenträchtig. Aber dann entschlüpft dem Kommunisten doch noch ein agenturwürdiger Satz: „Es gab keinen Einmarsch von Truppen der DDR in die CSSR.“

Verwundert setzt der Interviewer nach: „Das hören wir zum erstenmal.“ Sindermann präsentiert sich als „Zeitzeuge“, weil er 1968 als erster SED-Sekretär des Bezirks Halle „verantwortlich für den Abschnitt von der Grenze zur BRD bis nördlich von Karlsbad“ gewesen sei. Die Sowjets seien einmarschiert, die DDR-Truppen hätten im grenznahen Bereich „biwakiert“. Der Grund: „Wären die deutschen Truppen mit einmarschiert und wäre es zu Kämpfen gekommen, hätte sich im tschechoslowakischen Volk angesichts der Erinnerung an den Einmarsch der Wehrmacht 1938/39 ein Deutschenhaß ohnegleichen entwickelt. So blind wir auch sonst in vielem waren, das wenigstens haben wir damals richtig gesehen.“ Punkt, Aus, auf dem Spickzettel des Journalisten standen andere Fragen. Seine Kollegen haben später herausgesucht, daß es für den NVA-Einsatz kaum Beweise gebe.

Sindermann ist tot. Seine Asche wird in dem für „Verfolgte des Nationalsozialismus“ reservierten Teil eines städtischen Friedhofes liegen. Derart auf seine antifaschistische Jugend reduziert, wird Sindermann nun vielleicht doch in die Geschichtsbücher eingehen - als der erste SED-Obere, der die einstige Propaganda von der „Erfüllung der internationalistischen Pflicht“, Augenzeugen und die erste frei gewählte Volkskammer der Unwahrheit überführte. Das Parlament hatte sich am 12. April bei den Völkern der Tschechoslowakei entschuldigt für den „Einmarsch der Volksarmee“.

peb

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