Der Oberste Sowjet der Lettischen SSR

Deklaration über die Erneuerung der Unabhängigkeit der Republik Lettland  ■ D O K U M E N T A T I O N

Der am 18. November 1918 proklamierte unabhängige Staat Lettland wurde 1920 international anerkannt und 1921 gleichberechtigtes Mitglied im Völkerbund. Rechtlich verwirklichte die lettische Nation ihre Selbstbestimmung im April 1920, als das Volk in allgemeiner, gleicher, direkter und proportionaler Wahl der Verfassunggebenden Versammlung sein Vertrauensmandat erteilte. Jene verabschiedete am 15. Februar 1922 das Grundgesetz des Staates - die Verfassung der Republik Lettland, die bis zum heutigen Augenblick de jure in Kraft ist.

Die am 16. Juni 1940 durch die damalige Stalinsche Regierung der UdSSR an die Regierung der Republik Lettland übergebene ultimative Note mit der Forderung, die Regierung abzulösen, und die militärische Aggression der UdSSR vom 17. Juni 1940 sind als ein internationales Verbrechen zu qualifizieren. Dessen Resultat war die Besetzung Lettlands und die Liquidierung der souveränen Staatsmacht der Republik Lettland. Die Regierung Lettlands wurde unter dem Diktat der Vertreter der Regierung der UdSSR gebildet. Nach internationalem Völkerrecht war diese Regierung kein ausführendes Organ der souveränen Staatsmacht der Republik Lettland, denn sie vertrat nicht die Interessen der Republik Lettland, sondern die der UdSSR.

Unter Bedingungen des politischen Terrors fanden am 14. und 15. Juli 1940 im besetzten Lettland Wahlen statt, die auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes durchgeführt wurden. Von den 17 eingereichten Kandidatenlisten wurde nur eine zugelassen - die des „Blockes der Werktätigen“. In der Wahlplattform des „Blockes der Werktätigen“ war die Forderung nach Ausrufung zur Sowjetunion nicht erhoben worden. Zudem wurden die Wahlergebnisse gefälscht.

Das als Ergebnis dieser Hintergehung des Volkes zustande gekommene Saeima (Parlament) drückte nicht den souveränen Willen des lettischen Volkes aus. Es hatte kein verfassungsmäßiges Recht, über die Änderung der Staatsform und die Liquidierung der staatlichen Souveränität Lettlands zu entscheiden. Einzig das Volk war berechtigt, über diese Fragen zu entscheiden, doch fand eine freie Volksabstimmung nicht statt.

Damit ist der Anschluß der Republik Lettland an die Sowjetunion nach internationalem Völkerrecht ungültig, und die Republik Lettland besteht weiterhin de jure als Subjekt des internationalen Völkerrechts, was von mehr als 50 Staaten der Welt anerkannt wird.

Unter Berücksichtigung der vom Obersten Sowjet der Lettischen SSR am 28. Juli 1989 verabschiedeten „Deklaration über die Souveränität des Staates Lettland“, der am 15. Februar 1990 verabschiedeten „Deklaration zur Frage der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands“ und des Appells der Versammlung aller Volksdeputierten Lettlands vom 21. April 1990, unter Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung Lettlands, der dadurch unmißverständlich zum Ausdruck gekommen ist, daß eine Mehrheit von solchen Abgeordneten gewählt worden ist, die in ihrem Wahlprogramm ihre Entschlossenheit bekundet haben, die staatliche Unabhängigkeit Lettlands zu erneuern,

sich für den Weg zur Erneuerung de facto der freien, demokratischen und unabhängigen Republik Lettland erklärend,

b e s c h l i e ß t der Oberste Sowjet der Lettischen SSR:

1. In Anerkennung der Priorität der Grundprinzipien des internationalen Völkerrechts über die Normen des Staatsrechts die Vereinbarung zwischen der UdSSR und Deutschland vom 23. August 1939 und die daraus resultierende Liquidierung der souveränen Staatsmacht der Republik Lettland am 17. Juni 1940 infolge der militärischen Aggression der UdSSR als widerrechtlich zu betrachten;

2. die am 21. Juli 1940 vom Saeima (Parlament) Lettlands verabschiedete „Deklaration über den Beitritt Lettlands zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ für vom Augenblick der Verabschiedung an ungültig zu erklären;

3. die Wirksamkeit des von der Verfassunggebenden Versammlung am 15. Februar 1922 verabschiedeten Konstitution der Republik Lettland in ganz Lettland zu erneuern.

Die offizielle Bezeichnung des Staates Lettland lautet REPUBLIK LETTLAND, kurz LETTLAND;

4. bis zur Verabschiedung einer neuen Fassung der Konstitution die Verfassung der Republik Lettland bis auf jene Artikel außer Kraft zu setzen, die die verfassungsmäßige Rechtsgrundlage des Staates Lettland definieren und die nach Artikel 77 des Grundgesetzes nur in einer Volksabstimmung geändert werden können, und zwar:

Artikel 1 - Lettland ist eine unabhängige, demokratische Republik.

Artikel 2 - Die souveräne Macht im Staat Lettland geht vom Volk Lettlands aus.

Artikel 3 - In den durch internationale Verträge festgelegten Grenzen bilden Vidzeme, Latgale, Kurzeme und Zemgale das Territorium des Staates Lettland.

Artikel 6 - Das Parlament wird in allgemeiner, gleicher, direkter, geheimer und proportionaler Wahl gewählt.

Der Artikel 6 ist mit der Erneuerung jener Strukturen der Staatsmacht und Verwaltung der unabhängigen Republik Lettland in Anwendung zu bringen, die die Durchführung freier Wahlen gewährleisten;

5. eine Übergangsperiode für die De-facto-Erneuerung der Staatsmacht der Republik Lettland festzulegen, die mit der Einberufung des Saeima (Parlament) der Republik Lettland endet. In der Übergangsperiode wird die höchste Staatsmacht in Lettland vom Obersten Sowjet der Republik Lettland verwirklicht;

6. es für die Übergangsperiode als möglich zu erachten, Normen der Verfassung und andere gesetzgeberische Akte der Lettischen SSR anzuwenden, die zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieses Beschlusses in Lettland wirksam sind, sofern diese nicht im Widerspruch zu den Artikeln 1, 2, 3 und 6 der Verfassung der Republik Lettland stehen.

In Streitfällen entscheidet das Verfassungsgericht der Republik Lettland über die Anwendung gesetzgeberischer Akte.

Für die Übergangsperiode gilt, daß allein der Oberste Sowjet der Republik Lettland neue gesetzgeberische Akte verabschiedet oder bestehende ändert;

7. eine Kommission zu bilden, um eine Fassung der Konstitution der Republik Lettland zu erarbeiten, die der heute gegebenen politischen, ökonomischen und sozialen Lage Lettlands entspricht;

8. allen Bürgern der Republik Lettland und anderer Staaten, die ständig in Lettland leben, soziale, ökonomische und kulturelle Rechte, wie auch jene politischen Freiheiten zu garantieren, die den allgemeingültigen Normen der internationalen Menschenrechte entsprechen. Dies hat in vollem Umfang für jene Bürger der UdSSR zu gelten, die den Wunsch äußern werden, in Lettland zu leben, ohne dessen Staatsangehörigkeit anzunehmen;

9. die Beziehungen der Republik Lettland mit der UdSSR in Übereinstimmung mit dem immer noch gültigen Friedensvertrag zwischen Lettland und Rußland vom 11. August 1920 zu gestalten, in dem auf ewige Zeiten die Unabhängigkeit des Staates Lettland anerkannt worden ist. Für die Verhandlungen mit der UdSSR ist eine Regierungskommission zu bilden. Die Deklaration tritt mit ihrer Verabschiedung in Kraft.

Riga, den 4. Mai 1990

Anmerkung des Übersetzers:

Die „Deklaration über die Erneuerung der Unabhängigkeit der Republik Lettland“ geht auf eine Vorlage der Volksfront Lettlands zurück. Das im Punkt 6 des Beschlusses erwähnte Verfassungsgericht der Republik Lettland gibt es noch nicht, es müßte erst noch berufen werden.

Übersetzung: Ojars J. Rozitis