Lettland verhandelt

■ Unabhängigkeit beschlossen / Gorbatschow grollt

Berlin (Riga/taz) - Gegrollt soll der sowjetische Präsident Gorbatschow haben, als er die Nachricht von der Unabhängigkeitserklärung der „Republik Lettland“, die am Freitag abend im Rigaer Parlament verabschiedet wurde, erhielt. Nach den Worten des Vorsitzenden der moskautreuen Kommunistischen Partei Lettlands und Gegners der Unabhängigkeit des Landes, Alfred Rubiks, soll Gorbatschow am Samstag mit Gegenmaßnahmen gedroht und die Unabhängigkeitserklärung als einen Verstoß gegen die sowjetische Verfassung bezeichnet haben. Gorbatschow behalte sich, so Rubiks, Gegenmaßnahmen vor.

Doch von offizieller Seite war gestern in Moskau noch keine Stellungnahme zu erhalten, vielleicht ein Hinweis darauf, daß sich die politisch Verantwortlichen nicht leicht tun mit der Formulierung der Antwort. Denn was das lettische Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit von 138 Stimmen bei einer Enthaltung beschlossen hat - 57 der Interfront nahestehende Abgeordnete hatten den Saal verlassen -, ist keine Kampfansage an die Moskauer Zentrale, sondern bietet die Grundlage für Verhandlungen. In einer Übergangsperiode soll der Erklärung zufolge nämlich die Verfassung der „Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland“, die künftig „Republik Lettland“ heißen wird, in allen denjenigen Bestimmungen gültig bleiben, die nicht vier Artikeln der ehemaligen Konstitution Lettlands aus dem Jahre 1922 widersprechen. In diesen vier Artikeln, die umgehend in Kraft treten sollen, ist festgeschrieben, daß Lettland eine unabhängige und demokratische Republik ist und ihr Territorium aus den vier Regionen Vidzeme, Zemgale, Latgale und Kurzeme besteht, deren Grenzen durch internationale Verträge festgelegt wurden. Das Parlament wird diesen Artikeln zufolge in freien Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt.

Wert legten die Parlamentarier allerdings auf die Festellung, die „souveräne Republik Lettland“ habe „de jure niemals aufgehört zu existieren und ist damit de facto wiederhergestellt.“ Die zweitgrößte baltische Republik folgte damit den Formulierungen der Unabhängigkeitserklärungen Litauens und Estlands. Im Gegensatz zu den Befürchtungen der konservativen Interfront, in der ein Teil der russischen Einwanderer in Lettland organisiert sind und die von Diskriminierungen der Einwanderungsbevölkerung sprach, garantiert die Erklärung den Einwanderern „alle sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte sowie die politischen Freiheiten in Übereinstimmung mit den international anerkannten Normen der Menschenrechte“.

er Siehe Dokumentation Seite 4

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