NEUSS DEUTSCHLAND

■ Wolfgang Neuss – kleiner Rückblick auf einen großen Vordenker

Ein Skandal ist anzuzeigen: Ein Rentner aus Magdeburg will nicht in den Westen – er kann die Verwandtschaft sowieso nicht leiden...“ – ein Satz aus dem Programm Das Jüngste Gerücht, mit dem sich Wolfgang Neuss 1963/64 an die Spitze des deutschen Kabaretts spielte. Ausschnitte daraus wurden am Samstag im Fernsehen wiederholt, im Rahmen eines Wolfgang –Neuss-Abends, den 3sat zum ersten Todestag live aus Berlin sendete: eine Talk-Runde mit ehemaligen Freunden und Kollegen sowie zahlreichen Ausschnitten aus Programmen und Interviews – Annäherungen an ein vielfältiges, schillerndes Phänomen, das Ungeheuer von Loch Neuss. Ungeheuer deswegen, weil auf der einen Seite Klamotte, Klamauk und hemmungsloser Karrierismus und auf der anderen Intelligenz, Geist und ein in seiner Konsequenz ziemlich einmaliger, höchst vorbildhafter Lebensweg – und vor allem: ungeheuer voraus. Von Sätzen wie dem oben zitierten, 25 Jahre alt, aber äußerst aktuell und brisant, wimmelt es in den alten Neuss –Texten – kürzlich druckte die taz einen Neuss-Kommentar zur Wiedervereinigung, über ein Vierteljahrhundert alt und doch frischer als das meiste, was die Leitartikler derzeit zur deutsch-deutschen Gemengelage absondern. Vielleicht sollten wir uns in 10 oder 20 Jahren entschließen, die Kolumnen, die Neuss in den 80er Jahren exklusiv für die taz schrieb, noch einmal zu drucken, ich bin sicher, daß es ein Riesenerfolg würde, und kann mir die putzigen Reaktionen – „ist ja toll, wie hat er das nur damals schon gewußt“ – schon ausmalen. Dazuschreiben allerdings müßte man, daß diese Texte bei ihrem ersten Erscheinen selbst in einem sich innovativ und querdenkend verstehenden Medium wie der taz auf Unverständnis und Ablehnung stießen und ihr Autor vom Redaktionskollegium eher als prominenter Pausenclown geduldet statt als kompetenter Vordenker akzeptiert und gefordert wurde. Neuss galt den meisten als bekiffter Wirrkopf, dem man punktuell ein paar Witze zugestand, dessen Ideen und Vorschläge ansonsten aber nicht weiter ernst genommen werden brauchten – in ihrer eigenen Schreibe orientierten sich die taz-AutorInnen eher am Kammerton der SFB-Presseschau als an der Neussschen Wortakrobatik.

Wie hat er das nur gemacht – 1960 den Film über das deutsche Thema, Faschismus/ Antifaschismus, zu drehen, 1962 mit Genosse Münchhausen Glasnost und Perestroika vorwegzunehmen, von seinen frühen Kabarettprogrammen bis zu den letzten Artikeln im Frühjahr 1989 der Zeit immer ein Stück voraus zu sein? „Das ist kein Glück“, hat er einmal gesagt, „und auch keine Gabe, das ist eine Krankheit.“ Die Erklärung der Krankheitsursache war wieder typisch Neuss: Seine Mutter hätte ihn als Dreijährigen fast erstickt, dabei sei seine Seele aus dem Körper entwichen und nachher nicht wieder richtig eingeschnappt. Seitdem sei er mit einer Außenseele durch die Welt gelaufen, allerdings ohne es zu wissen. Daß er über ein so merkwürdiges Sensorium, eine Antenne für noch unsichtbare Programme verfüge, habe er erst in den 70er Jahren bemerkt, auf Reisen in seine Innenwelt mit Hilfe psychoaktiver Drogen. Damals hagelte es die berühmten Geschichten vom kaputten „Drogenwrack“, doch abgesehen von den nach und nach ausfallenden Zähnen hatte Neuss in den folgenden Jahren mehr Tassen im Schrank als je zuvor. „Der Mann ist nicht ganz bei sich, hat ein Journalist geschrieben, und in diesen Satz habe ich mich verliebt.“ Im Nicht-ganz-bei-sich-Sein entdeckte er nicht nur sein Prinzip, sondern das Prinzip, von dem jede Gesellschaft, jede Kultur lebt: Ekstase, Temperament, Außersichsein. Als Synonym für dieses Prinzip gebrauchte er noch zwei andere Worte: „Geist“ und „Droge“ und forderte logischerweise deren sofortige Legalisierung. Daß man den ganzen Tag im Radio ekstatischen Rock'n'Roll spielt, gleichzeitig aber die natürlichen Mittel, sich in diesen Zustand zu versetzen, verbietet – dieser Widerspruch wollte ihm nicht in den Kopf; allen, zumal den kabarettistischen Kulturarbeitern, empfahl er, dies in den nächsten 10 Jahren zu ihrem Programm zu machen. Leider wird es wieder 20 Jahre dauern bis jemand merkt, daß der Neuss einmal mehr recht hatte...

Mathias Bröckers