Der kurze Frühling der Autonomie

Ein Jahr nach den Hoffnungen im Mai herrscht bei den Belegschaften in Chinas Betrieben Resignation / Die autonome Gewerkschaftsbewegung ist zerschlagen  ■  Von Thomas Reichenbach

Auch in China ist der 1.Mai der „Tag der Arbeit“. Dem Proletariat hat die Partei auch in diesem Jahr die üblichen Lobreden gewidmet, aber den ArbeiterInnen dürfte nicht nach Feiern zumute gewesen sein: Von ihnen werden die größten Opfer verlangt, weil die Partei die Wirtschaftskrise durch ein Programm der „wirtschaftlichen Regulierung“ in den Griff bekommen will. Der drakonische Sparkurs der Regierung hat im Laufe eines Jahres Tausende von Betrieben in den Bankrott getrieben. Um das „überhitzte Wachstum“ und die hohe Inflation zu dämpfen, hatte der Volkskongreß auf seiner Jahrestagung im März beschlossen, die Staatsausgaben zu senken, das Kreditvolumen zu beschneiden, zahlreiche kapitalintensive Großprojekte aufzugeben und die Nachfrage zu drosseln. Daraufhin stoppten die Betriebe ihre Investitionen, in der Grundstoffindustrie, der Bauwirtschaft und der weiterverarbeitenden Industrie gab es Massenentlassungen. Der Rückgang der Nachfrage ließ bei vielen Betrieben den Absatz stocken, verschuldete Unternehmen waren plötzlich nicht mehr zahlungsfähig.

Entlassungen und Sonderschichten

Man versucht auf verschiedene Weise, sich auf die Situation einzustellen. Die Belegschaft wird in Schuldscheinen oder in Produkten des Unternehmens ausgezahlt, ungelernte oder entbehrliche Arbeitskräfte werden entlassen oder bei reduziertem Lohn nach Hause geschickt. Doch diese Tausende bilden ein neues Protestpotential in den Städten, deshalb versucht die Partei einen anderen Weg: durch Kampagnen sollen die Arbeiter zu Höchstleistungen motiviert werden, um ihre maroden Betriebe zu retten. Oft stapelt sich die Mehrproduktion allerdings nur in den Lagern.

Drastische Beispiele gibt es zum Beispiel in der Hafenstadt Tianjin, wo viel für den Export produziert wird. Manche Unternehmensleitungen haben kurzerhand den einzigen freien Tag in der Woche gestrichen und die Arbeitszeit von acht auf zwölf Stunden heraufgesetzt. Wer sich an diesen „patriotischen Sonderschichten“ nicht beteiligt, wird mit Lohnabzügen bestraft. In einem der großen Exportbetriebe Tianjins mußte die Kampagne aber nach einer Woche abgebrochen werden, weil die Belegschaft völlig erschöpft die Weiterarbeit verweigerte.

Zugleich sitzen die Arbeiter oft untätig herum, weil die Produktion durch Stromausfall oder Materialmangel zum Stillstand gekommen ist. Die nach dem Massaker von 1989 reaktivierten Betriebszellen genießen in den Betrieben kaum noch Ansehen - niemand will die gebetsmühlenartig wiederholten Parolen ihrer Schulungskampagnen mehr hören.

Auf diese triste Wirklichkeit reagieren die Arbeiter mit kleinen unpolitischen Streiks, mit Bummelei oder auch Sabotage. Doch die Unzufriedenheit scheint vor allem zur Entpolitisierung der Arbeiterschaft zu führen, die politische Apathie drückt sich in der Zunahme von Alkoholismus und Spielleidenschaft aus.

In diesem Mai werden sich viele an die kurze Zeit im vergangenen Frühling erinnert haben, als die Studentenbewegung auch den Alltag in den Betrieben veränderte. Damals hatten sich in der Hauptstadt, aber auch in Schanghai, Hangzhou, Changsha, Xian, Nanjing, Wuhan und anderen Städten die ersten freien autonomen Gewerkschaftsorganisationen seit der Gründung der Volksrepublik gebildet. Nach 40 Jahren, in denen die Kommunistische Partei ihren Machtanspruch verteidigt und keine gesellschaftlichen Organisationen zugelassen hatte, die nicht unter ihrer Kontrolle standen, waren diese Gründungen eine Sensation. Angesichts der Unfähigkeit und Sprachlosigkeit des stets auf Parteilinie liegenden Gewerkschaftsbundes waren sie allerdings auch längst überfällig - die Demokratiebewegung schuf dann die Situation in der sie historisch möglich wurden.

Ähnlich wie andere Massenorganisationen, etwa der Kommunistische Jugendbund oder die Frauenliga, diente der offizielle Gewerkschaftsbund nur als Akklamationsorgan und als Mittel, den jeweiligen Parteikurs an der Basis durchzusetzen. Abgesehen von ihrer Funktion als Sprachrohr der Regierung sind die Gewerkschaften kaum mehr als ein bürokratischer Apparat zur Mitgliederverwaltung, dessen Funktionäre vor allem ihre eigenen Privilegien im Auge haben. Die Leistungen für die beitragzahlenden Mitglieder bestehen vorwiegend im Angebot von Vorträgen und Freizeitveranstaltungen; es werden Kuraufenthalte organisiert, es gibt Sozialprogramme für Witwen und Waisen und ähnliches mehr.

Die Quittung dafür erhielt die Gewerkschaft im Mai 1989. In verschiedenen Betrieben bildeten sich, zunächst unabhängig voneinander, autonome Arbeiterkomitees, die politische Forderungen stellten und die Demokratiebewegung unterstützten. Das markierte den Übergang von der Studentenbewegung zu einer Volksbewegung. Hatten die Arbeiter im April der Jugend nur applaudiert, so beteiligten sie sich nun in großer Zahl an den Solidaritätsaktionen für die hungerstreikenden Studenten: Sie sammelten Spenden innerhalb und außerhalb der Betriebe, brachten Wasser, Decken und warme Kleidung auf den Platz des Himmlischen Friedens. Am 17.Mai traten ganze Belegschaften nicht zur Arbeit an, um an den Demonstrationen teilnehmen zu können.

Beginn einer Volksbewegung

Das Ergebnis dieser schnellen Politisierung war der politische Zusammenschluß der betrieblichen Arbeitervereinigungen zum „Pekinger Autonomen Arbeiterkomitee“ am 19.Mai - es ging dabei kaum um grundsätzliche Abkehr von der Partei oder gar vom Sozialismus, sondern um eine authentische Interessenvertretung. Vor der Verbrüderung von Arbeitern und Studenten hatte die Regierung weit mehr Angst, als vor dem Universitätsstreik. Ein Generalstreik, der sich auf das ganze Land ausweiten konnte, war die größte Gefahr. Deshalb versuchte man von Anfang an, die Studenten von den Betrieben fernzuhalten - sie durften die Fabriken nicht betreten. Aber die Arbeiter kamen zu den Studenten. Wie ernst die Regierung die drohende Gefahr eines Bündnisses nahm, zeigt sich daran, daß sie ihr erstes Angebot zum Dialog nicht den Studenten machte, sondern den unruhig gewordenen Arbeitern des Pekinger Stahlwerks.

Am Abend des 28.Mai versammelte sich das „Pekinger Autonome Arbeiterkomitee“ in seinem „Hauptquartier“ auf dem Tienanmen -Platz, um ein „vorläufiges Statut“ zu verabschieden. Neben dem Anspruch auf authentische Interessenvertretung in den Betrieben wird darin die politische Forderung nach Autonomie erhoben und eine „Kontrollfunktion gegenüber der Partei“ angestrebt. „Grundprinzip der Organisation ist es, gestützt auf den Willen der großen Mehrheit der Arbeiter eigenständige politische und wirtschaftliche Forderungen aufzustellen und nicht nur eine Wohlfahrtsorganisation zu sein.“

In der Pekinger Arbeiterschaft hatte das Komitee großen Rückhalt. Nach der Verhängung des Kriegsrechts bewiesen die Arbeiter, daß sie zu Unrecht als unpolitisch gegolten hatten: Sie waren in der Nacht zum 20.Mai als erste vor Ort, um die Lastwagen der Armee am Weiterfahren zu hindern, und sie trugen auch in den folgenden zwei Wochen die Hauptlast bei der Verteidigung der Blockadelinien. Busfahrer stellten die Beförderung ein, die U-Bahnlinie in die Innenstadt wurde lahmgelegt, um ein rasches Vordringen der Armee unmöglich zu machen. Nach dem Massaker vom 4.Juni, als die Studentenbewegung bereits zerschlagen war, leisteten die Arbeiter weiterhin Widerstand. Bis zum 6.Juni bauten sie Barrikaden in der Innenstadt, entwendeten Waffen und lieferten sich aussichtslose Scharmützel mit den Besatzungstruppen. In den Tagen bis zum 7.Juni (so lange gab es noch Schußwechsel in Peking) waren die Opfer fast ausnahmslos Arbeiter. Der spontane und unerklärte Generalstreik brach erst am 9.Juni zusammen, als die Soldaten mit Waffengewalt die Öffnung der Läden erzwangen und schwere Strafen für die Abwesenheit vom Arbeitsplatz verhängt wurden.

Repression und Apathie

Der autonomen Gewerkschaftsbewegung blieb nicht die Zeit, sich zu organisieren und ein Programm zu erarbeiten. Von Anfang an waren die Arbeitervereinigungen in allen Städten scharfer Repression ausgesetzt. Schon am 29.Mai wurden Shen Yinhan, der Vorsitzende des Pekinger Komitees, und die beiden Sprecher, Qian Yuming und Xiang Dongping, ohne Angabe von Gründen festgenommen. Zu den ersten Zielen der angreifenden Truppen auf dem Tienanmen-Platz gehörte das Hauptquartier des „Pekinger Autonomen Arbeiterkomitees“. Die Komitees wurden für illegal erklärt, ihre Führer als Anstifter der Konterrevolution steckbrieflich gesucht. Noch im Juni verhaftete man Han Dongfang und Liu Qiang, in der Folgezeit wurden in ganz China Hunderte von Mitgliedern und Organisatoren festgenommen. Die kurze Geschichte der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in der Volksrepublik war zu Ende.

Es bleibt die Einsicht, daß jeder neue Versuch, die Demokratisierung Chinas und grundlegende Reformen durchzusetzen, ohne die Unterstützung einer Arbeiterbewegung nicht möglich sein wird. Aber ob ein neues Bündnis zwischen Studenten und Arbeitern zustande kommt, ist schwer vorauszusehen. Seit den Ereignissen im Juni 1989 ist der Kontakt zwischen Universitäten und Betrieben fast vollständig unterdrückt worden. Aber alle Anstrengungen der Partei, die Arbeiterschaft ideologisch auf Kurs zu bringen, sind gescheitert. Trotz monatelanger Erziehungskampagnen sinkt das Ansehen der Partei und der offiziellen Gewerkschaften immer weiter. In den Städten bildet die Arbeiterschaft immer noch ein großes Protestpotential viele wären bereit, eine neue Volksbewegung für Demokratie und Reformen zu unterstützen.

Doch bislang herrscht in den Betrieben vor allem Resignation. Nur durch ein großes politisches Ereignis, durch neue Massenproteste etwa wäre die Arbeiterschaft vielleicht zu mobilisieren. Die Vorreiterrolle müßten wohl wieder die Studenten übernehmen.