Menschenstücke, verschickt

■ „Blattgold“, eine deutsche Uraufführung

Es ist nicht mehr so einfach, ein Stück über den Nationalsozialismus zu schreiben. Meist watet das Publikum knietief im Geschichtskitsch, hält allzu leicht Gut und Böse auseinander, erschrickt an der richtigen Stelle und ist anschließend der Ansicht, daß die Geschichtsbücher wohl recht haben und so etwas nicht mehr passieren kann. Man kennt die Typen, man kennt die Schauplätze, man kennt die Konflikte und wundert sich nicht mehr. All das ist gut gemeint, und dabei bleibt es auch.

Vielleicht hat die für den Autor Ulrich Zaum unglückliche Titelähnlichkeit von Blattgold mit dem theatralischen Machwerk Zahngold bei mir zu dunklen Vorahnungen geführt. Letzteres hatte seine Uraufführung ebenfalls in dieser Saison, wurde als Abrahams Gold dazu noch verfilmt, bekam keine Filmförderung und konnte sich diesen Mangel noch gesinnungstechnisch an die Papierbrust heften: Das muß dann wohl ein gefährlicher Film sein, nicht wahr, wenn Hanna Schygulla mitspielt und er trotzdem nicht gefördert wird. War's aber nicht. Wenn die Filmförderung schon mal richtig funktioniert, kriegt sie prompt eins auf den Zuckerhut.

Am Anfang denkt man richtig: Alles wie gehabt. Ein geigespielendes dunkelhaariges Opfer, schneidige blonde Offiziere, die da herumstehen und perfide gucken, und eine Bühne, die so üblich ist, wie es üblicher nicht sein könnte: Stoffe auf dem Boden, die sich sachte wellen, ein Grabhügel links, Erhebung rechts, alles fein im Halbabstrakten und fehlerlos wie ausdruckslos. Und ewig pfeift die Windmaschine. Daß es dann besser wird, wesentlich besser, ist zwei Elementen zu verdanken: dem Stück und seinen Schauspielern.

Ulrich Zaum hat ein Stück über den Seher Hanussen geschrieben - das ist die zweite unglückliche Koinzidenz (nach dem deutschen Spielfilm mit Klaus Maria Brandauer). Dieser Hanussen hieß eigentlich Herschel Steinschneider, war schon im ersten Weltkrieg fürs Deutsche Reich als Unterhaltungskünstler an der Front tätig und hängte sein Fähnchen in den dreißiger Jahren mit seinen Varietekünsten in den nationalsozialistischen Sturm: Hitlers Erfolg stehe in den Sternen geschrieben, verkündete „Hanussens Bunte Wochenschau“. Das verkaufte sich vermutlich noch leichter als heute die Weisheiten der Elisabeth Tessier, denn auch die Zukunft war gleichgeschaltet. Vermutlich hat die Tatsache, daß der Seher sich nicht auf eigene Kräfte, sondern auf Informationen aus gut unterrichteten Nazikreisen verließ, seine Ermordung beschleunigt. Wochen nach seiner „Liquidation“ am 24. März 1933 wurde die von Kugeln zersiebte, vom Wildfraß unkenntlich gemachte Leiche im Unterholz bei Berlin gefunden.

Ulrich Zaum hat kein Stück über den Seher Hanussen geschrieben - das ist Klippe und Chance des Stücks. Ihn interessiert die Figur als Typus, nicht als Individuum, so wie ihn die Figuren um den labilen und charismatischen Hanussen (glaubhaft: Horst Stenzel) herum als Typen interessieren: der zynische Mitläufer Graf Helldorf (hervorragend gespielt von Reinhard Krökel), der traumatisch erblindete Frontsoldat (beeindruckend: Alexander Muheim), der ewig muntere Kriegsgewinnler Kaspereit, seine vergnügungsfreudige Gattin, der alte, lebenskluge Zauberer (Peter Anger, berückend und heimlicher Star des Abends). Die Klippe ist der Bilderbogen, der unverbindliche, allzu bekannte Reigen von Typen der zwanziger und dreißiger Jahre. Man kann diese Klippe umschiffen, wenn die Regie zeigt: das sind lauter Menschenstücke, die man verschickt hat. Dazu allerdings wäre mehr nötig gewesen, als in Kiel zu sehen war. Die Chance liegt in der Sprache, die (von einigen Anleihen bei Büchner abgesehen) von einer Originalität und Bildkraft ist, wie sie bei jungen Bühnenautoren nicht gerade die Regel darstellt: „Diese plump vertrauliche Art, mit dem Schicksal umzugehen...“, höhnt der Graf gegen Hanussen, dessen Stern sinkt, “...zu bumsen, was da morgen kommt.“

Die Regie hat viel, hat fast alles verschenkt. Die erste Szene schon ist von einer Grausigkeit, daß jedem Zuschauer im Parkett das Blut gerinnen müßte: Da wird ein Heldengrab aus Leichenbergen zusammengeschaufelt, da gilt es, namenlosen Körpern im Verwesungszustand noch einen Titel zu verpassen, ein Kreuz auf die Erde zu setzen, um eine Bestattung vorzutäuschen. Da wird noch mit den Toten eine Politik gemacht, die wahrhaftig zum Himmel stinkt. Stattdessen sitzt man im sterilen Licht und setzt aus den Texten mühsam zusammen, was die Inszenierung hätte leisten müssen: den zynischen Schrecken selbst.

Ulrich Zaums zweites Stück, Liebfrauenmilch (ein fiktiver Monolog der Witwe Heydrich) wird im Herbst in Tübingen Premiere haben. Blattgold hat weitere Inszenierungen verdient.

Elke Schmitter

Ulrich Zaum: „Blattgold“, Theater Kiel, Regie: Johannes Klaus. Die nächsten Aufführungen: 15. und 17. Mai.