Schreibt der Mensch Klimageschichte?

■ Interview mit Emmanuel Le Roy Ladurie, dem bekanntesten „Wetterhistoriker“ Frankreichs / Der Autor eines Standardwerks zur Klimageschichte, ist Leiter der Pariser Nationalbibliothek und lehrt am College de France

taz: Sommerliche Waldbrände im Winter, Trockenalarm in der Regenzeit - irgendetwas scheint doch nicht mit unserem Wetter zu stimmen. Ein Thermometer und einige Zeitungsausschnitte über den Treibhauseffekt genügen, um an die bevorstehende Klimakatastrophe zu glauben. Gab es in der Geschichte vergleichbare Perioden?

Emmanuel Le Roy Ladurie: Auch im Mittelalter gab es Klimaänderungen, und die Menschen haben sie auch als solche wahrgenommen. Im 16. Jahrhundert merkten die Leute, daß die Gletscher fortschritten, sie sprachen von häufigerem Frost etc. Einige Texte zeigen, daß das Jahrzehnt 1690 bis 1700 als sehr kühl empfunden wurde. Aber im allgemeinen registrierten die Menschen nur die kurzen Schwankungen.

Weil es kein kollektives Gedächtnis in Form von Aufzeichnungen gab, das über ein Menschenleben hätte hinausgehen können?

Nein, weil die Schwankungen so gering sind, daß es unmöglich war, einen Mittelwert als solchen wahrzunehmen.

Gab es in der Geschichte kollektive Panikreaktionen, die durch klimatische Änderungen ausgelöst wurden?

Nein, aber es gab natürlich Naturkatastrophen, die sich auf die Ernten auswirkten. Der große Hunger von 1315 etwa, als das Getreide vom Regen vernichtet wurde, oder die Dürre von 1556. Im Jahre 1693 gab es eine Hungersnot nach drei aufeinanderfolgenden sehr feuchten und kalten Jahren.

Aber wie wurden früher Klimakatastrophen erklärt? Wie wurde die individuelle Erfahrung, beispielsweise der längere Frost oder die verregnete Ernte, in einen allgemeinen Zusammenhang eingeordnet?

Die Erklärungen bezogen sich meist nur auf die kurze Periode. Aber ich bin überzeugt, daß selbst die Veränderung der Gletscher, die einige Jahrhunderte dauerte, von einer Minderheit wahrgenommen wurden. Die Großeltern sagten ihren Enkeln, daß der Hunger früher größer war. Es gibt den Text eines Priesters in Grönland aus dem 13. Jahrhundert, in dem steht: „Jetzt ist das Eis gekommen“, das Eis, das die Durchfahrt zwischen Island und Grönland versperrte. Aber im allgemeinen wurde die lange und auch die mittlere Periode nicht wahrgenommen.

Nun hat sich die Situation heute vollkommen verändert. Zum ersten Mal steht die Menschheit vor der Einsicht, daß sie selbst es ist, die das Klima macht.

Heute wird gesagt, daß es eine Aufwärmung des Klimas infolge des Treibhauseffekts gibt. Das mag stimmen. Auf alle Fälle sind sich die Leute des Problems bewußt und versuchen, ihre eigene Erfahrung, die beiden letzten trockenen Winter, damit zu verbinden. Ich glaube nicht, daß man diesen Zusammenhang herstellen kann. Eine Erwärmung ist seit etwa 100 Jahren festzustellen. Aber ob sie wirklich vom Menschen verursacht ist, vermag ich nicht zu sagen. Das kann sich morgen aber schnell herausstellen.

Die Verbindung von Alltagserfahrung und universeller Deutung, wie sie gegenwärtig in den Zeitungen betrieben wird, ist also genauso Glaubenssache wie im Mittelalter?

Wir sind gezwungen, den Wissenschaftlern zu glauben, und sie verlangen von uns, zu glauben. Vielleicht haben sie recht. Es gibt aber auch die alten Ängste des jüngsten Gerichts, nun auf ökologische Weise, die sehr verbreitet sind. Es gibt sogar einen ökologischen Willen, zu natürlichen Zuständen zurückzukehren, der aber sehr schwer zu verwirklichen sein wird. Wie soll Brasilien gehindert werden, seinen Regenwald zu zerstören? Die Menschheit kontrolliert ihr eigenes Schicksal nicht, weder die demographische noch die industrielle Entwicklung. Das war zwar niemals der Fall, nur früher waren die Auswirkungen etwa der Landwirtschaft für die Umwelt relativ ungefährlich. Ich bin recht pessimistisch.

Also scheint die Geschichte des kosmologischen Wetters an ihr Ende gekommen zu sein. Die Geschichte des Klimas droht zur Sozial- und zur Technikgeschichte zu werden.

Ja, wenn die Wissenschaftler recht haben und sich der Treibhauseffekt tatsächlich schon auswirkt. Es gibt andere Studien, die dem widersprechen. Obwohl Menschen schon immer Einfluß auf das Klima hatten. Im Languedoc wurde der Wald infolge von Schafverbiß und Bränden durch die Garrigue (Mittelmeer-Buschbewuchs, d.Red.) ersetzt, wodurch das örtliche Klima verändert wurde. Die Landschaft Westeuropas ist letztlich vom Menschen geschaffen. Aber die Geschichte des Klimas war eine Geschichte der Auswirkungen auf den Menschen. Wenn Ihre Hypothese stimmt, hätten wir es jetzt mit einer Geschichte des Menschen zu tun. Interview: Julie Hazemann un

Alexander Smoltczy