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Machtpolitik und pädagogische Rhetorik

Die Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Berlin  ■ G A S T K O M M E N T A R

Die Termine scheinen wie von Geisterhand gewählt: 9. November 1989 Fall der Mauer, 8. Mai 1990 Jüdischer Weltkongreß in Berlin, dem Ort der Wannseekonferenz. Selbstzufriedener noch als schon gewohnt, konnte der Kanzler der neuen deutschen Einheit sich die Mahnungen der jüdischen Repräsentanten anhöhren. Allein durch seine Präsenz im Zentrum des noch geteilten Deutschlands gab der Jüdische Weltkongreß sein Placet zur Vereinigung Deutschlands. Er ließ sich in die Rolle des alten Lehrers drängen, der dem Abiturienten ein paar strenge, für die Praxis allerdings unverbindliche Ratschläge mit auf dem Weg gibt. Aber den jüdischen Repräsentanten hat man sogar nur noch die Rolle des Religionslehrers angeboten, dessen positives Urteil zwar angenehm, für den Gang der Ereignisse jedoch nicht weiter von Bedeutung ist. Die Umfunktionierung der Moral, zum dekorativen Beiwerk von Machtpolitik ließ sich geschickter nicht inszenieren als in Berlin.

Edgar Bronfman und Heinz Galinski verlegten sich auf moralische Postulate an ein zukünftiges Deutschland. Ihre mit „müssen“, „sollen“ und „dürfen“ gespickten Reden spiegeln die Ohnmacht des Wortes gegenüber der Machtpolitik wieder. Vor zwei Jahren noch wären die jüdischen Repräsentanten mit Berliner Bären, Nachbildungen verbrannter Synagogen und antiquarischen Heine-Ausgaben beschenkt worden und das Fernsehen hätte jeden ihrer Schritte begleitet. Am 9. November 1988, dem 50. Jahrestag der von den Nazis angestifteten „Reichskristallnacht“, eroberte die geballte Präsenz bundesdeutscher Politiker die Synagogen. Man zwang den jüdischen Gemeinden die brutale Alternative einer nationalen Versöhnungskultur auf, entweder Jasager oder Störenfriede zu sein. Heinz Galinskis damaliger Vorschlag, den 9. November zum gesamtdeutschen Feiertag zu machen, griff nicht nur den Ereignissen unbeabsichtigt voraus, sondern die jüdische Repräsentativkultur begab sich selbst in die nationale Sackgasse, in der ihr nur noch die Mahnungsrhetorik bleibt.

In der Rolle des moralischen Mahners steht man ständig unter dem Zwang, zu vergeben und ein bisserl zu vergessen, um nicht allzu unbeliebt zu werden. Wer kann sich noch an Jenninger erinnern, der als Bundestagspräsident Einheit, Kontinuität und Identität des deutschen Volkes beschwor? Alle Welt beugt sich inzwischen diesen Kategorien. Den Kanzler erinnerte niemanden mehr daran, daß er kürzlich noch die Grenzdiskussion als Verbeugung vor dem „Republikaner„ -Wählerpotential bis zum Gehtnichtmehr offen hielt. Er bescheinigte sich unwidersprochen vor dem Weltkongreß, daß er aus der Geschichte gelernt habe. Das kostet wenig; denn in der konkreten Politik bedeuten pädagogische Lehren nichts.

Merkwürdigerweise haben jüdische Repräsentativkultur und linke Einheitsgegner eines gemeinsam: Den Rückzug aus der Politik in die Pädagogik. Ohmacht wird in eine abstrakte moralische Haltung verwandelt und die Geschichte aus pädagogischen Gründen verzerrt. Aus falschen Lehren werden falsche Schlüsse gezogen. Die deutsche Teilung ist nicht die verdiente Strafe für die nationalsozialistische Massenvernichtung der Juden, sondern ein Ergebnis des Kalten Krieges. Die Zweistaatlichkeit Deutschlands endet auch mit ihm. Dieser Prozeß beunruhigt und ermutigt zugleich. Die Gefahren für die Juden lauern nicht in den Unwägbarkeiten eines angeblichen deutschen Volkscharakters, sondern in der Wiederbelebung des Nationalismus nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Zur Begrüßung des jüdischen Weltkongresses hatten schon unbekannte Bekannte Brechts Grab auf dem Dorotheenfriedhof mit „Saujud“ gekennzeichnet.

Detlev Claussen

Der Autor ist Soziologe. Zur Zeit arbeitet er als Privatgelehrter an der Universität Hannover.

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