Kultur für alles

■ Frankfurts Kulturdezernent Hilmar Hoffmann wurde nach 20 Jahren Amtszeit verabschiedet. Morgen wird vermutlich Linda Reisch zu seiner Nachfolgerin gewählt. Ehemals Stiefkind der Frankfurter Kommunalpolitik, ist unter Hoffmanns Ägide die Kulturpolitik in der Mainmetropole zu einem Wirtschaftsfaktor ersten Ranges avanciert und Aushängeschild der Stadt geworden. Mit einer halben Milliarde Mark pro Jahr steht Frankfurts Kulturetat im bundesdeutschen Vergleich an einsamer Spitze. - Eine kritische Würdigung deskulturellen Wirtschaftswunders von Reinhard Mohr.

Eigentlich hätte er bis 1994 weitermachen können - denn so lange dauerte seine letzte siebenjährige Amtsperiode. Aber die seit Wochen anhaltende Abschiedssymphonie des 64jährigen Hilmar Hoffmann hat eindrucksvoll die tiefe Wahrheit bestätigt, daß man gehen soll, wenn es am schönsten ist. Letzte Einweihungen von Museumsanbauten und aufs schönste renovierten Häusern öffentlicher Kultur begleiteten das Ende einer Dienstzeit, die heute schon als „Ära“ gilt.

Während des großen Festaktes im Frankfurter Schauspielhaus am vergangenen Freitag prophezeite Oberbürgermeister Volker Hauff, eine angemessene Würdigung von Hoffmanns Lebenswerk könne allein in der Fortsetzung einer Politik liegen, „die er uns alle in den vergangenen Jahren gelehrt hat“. Der Senior des Suhrkamp-Verlags, Siegfried Unseld, wies auf Hoffmanns erstaunliche Übereinstimmung mit dem jeweils aktuellen Zeitgeist hin, was ihn als „realistischen Visionär und visionären Realisten“ ausweise. Sogar die konservative 'FAZ‘ attestierte dem Autoren der „Kultur-für-alle„-Theorie, seine „wirbelnde Gründerzeit-Mentalität, selbst sein Volkshochschulcharme könnten im Rückblick schon bald eine gewisse Größe gewinnen“. 'ap‘, 'dpa‘ und 'Reuter‘ meldeten übereinstimmend Hoffmanns persönliche Rekordmarken: 45 Museen, 150 Ateliers, 1,2 Milliarden Bauinvestitionen... Nur der 'Pflasterstrand‘ wagte sich ans Eingemachte: In einer grandiosen phallischen Metapher bezeichnete er Hilmar Hoffmann als den „Tauchsieder der Frankfurter Kultur“: „Wo er sich reinhängt, beginnt es zu brodeln. Wo er sich reinsteckt, kreist der Starkstrom des Geldes.“

Als Hilmar Hoffmann im Jahre 1970, aus Oberhausen kommend, zum Kulturdezernenten in Frankfurt gewählt wurde, traf er auf eine städtische Kultur, die von Aufbauwut und kapitalistischer Dschungelwirtschaft einerseits, von linksradikalen Aktionen und intellektuellen Diskussionen andererseits geprägt war. Bauzäune und Barrikaden bestimmten die Corporate identity für Dialog, Kommunikation, Erlebnisräume. Kultur ist identitätsstiftend, profilschärfend, bewußtseinssteigernd, anspruchsvoll, geistreich, unterhaltsam und kreativ - mit einem Wort: Kultur ist alles, und alles ist - irgendwie - Kultur.

Von diesem Ende konnte Hilmar Hoffmann nichts ahnen, als er 1970 mit seinem Programm „Kultur für alle“ begann, Ideen, Projekte und Institutionen für ein Kulturkonzept zu entwickeln, das sich auch einen gesellschaftlichen Begriff von der Sache zu machen versuchte. Doch in den zwanzig Jahren Frankfurter Kulturpolitik der Ära Hoffmann hat sich die Gesellschaft so rasant verändert, daß selbst der einem Sprengstoffanschlag der RAF zum Opfer gefallene Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, öffentlich die „Hyperrealität der Simulationsgesellschaft“ beklagte.

Ein einsamer

bundesdeutscher Rekord

Ehedem Stiefkind der Frankfurter Kommunalpolitik, ist Kulturpolitik heute der wichtigste Teil des Stadt -Marketings, Wirtschaftsfaktor, Standortvorteil und Wettbewerbsfaktor im Konkurrenzkampf der großen Städte. Die expansive Dynamik der Frankfurter Kulturpolitik ließ den einschlägigen Etat auf eine halbe Milliarde Mark pro Jahr emporschnellen - einsamer bundesdeutscher Rekord.

Spätestens seit der kommunalpolitischen Wende vom SPD -dominierten Magistrat zum CDU-Stadtvater Wallmann nahm die Kulturpolitik Kurs auf Kompensationsstrategien: Kultur als Sinnstiftung in der sich anbahnenden „neuen Unübersichtlichkeit“, die Jürgen Habermas zu Beginn der achtziger Jahre konstatierte, ausgleichendes Ferment städtischen Alltagslebens, dem die Revolte mehr und mehr abhanden kam. Der Elan aufklärerischen Wirkens hat im Laufe der Achtziger nicht nur die politischen Subjekte, sondern auch die Künstler und Kulturpolitiker verlassen.

Das Bedürfnis nach Repräsentation und Differenzierung des Kulturangebots wuchs mit der Erkenntnis, daß den brüchig gewordenen Identitäten Orientierung, Halt und Aufenthaltsmöglichkeiten verschafft werden müßten. So wurden ständig neue Orte gebaut - Kinos, Museen, Theater, Ausstellungsräume, auch Kneipen und Cafes -, um den spürbaren Verlust an realer Auseinandersetzung über Kunst und Gesellschaft gleich ambulant zu behandeln, je sublimer, desto besser. Als Anfang der achtziger Jahre das Wort von der „Metropole Frankfurt“ erfunden wurde, war Frankfurt schon auf dem besten Weg, seinen Ruf als Stadt der „Mörder, Millionäre und Marxisten“ ('Bild‘) abzustreifen und zum Zentrum des intellektuellen Jet-sets zu werden, in dem stets heftig, aber kultiviert über Gott und die Welt, Startbahn West und Gielens Opernauffassung debattiert wird.

Diese Vorneverteidigung im Kampf um die Seelen der Bürger - Wallmann sprach immer wieder von der identitätsverbürgenden Funktion der Kulturpolitik - führte am Ende zu den grotesken Mißverständnissen: Selbst der sperrige Philosoph Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen) wurde schließlich noch der Ehre teilhaftig, zum Adorno-Preisträger der Stadt erkoren und vom Oberbürgermeister Wallmann mit „Sehr verehrter Günter Grass!“ begrüßt zu werden. Während es mit dem Frankfurter Theater seit der „Direktoriums-ära“ Braun, Danzeisen, Palitzsch ständig bergab ging, weiteten sich die Zitatteppiche in politischen und kulturpolitischen Reden des Frankfurter Magistrats beständig aus. Ob Adorno oder Kierkegaard, Hölderlin, Habermas oder Benn, der gediegenen Klugheit und des kritischen Innehaltens war kein Ende, und die nichts weniger als absichtslose Selbstinszenierung der polyglott-urbanen Metropolenexistenz nahm ihren Lauf. Wer hätte damals ahnen mögen, daß derselbe Oberbürgermeister, der nicht müde wurde, das Gemeinwohl der aufgeklärten Bürgerschaft gegen anmaßende Partikularinteressen zu verteidigen, seinen privaten Garten auf Kosten der Stadt hegen und pflegen ließ? Wer hätte gedacht, daß im Zuge der Rekultivierungsbemühungen im verrufenen Bahnhofsviertel städtische Repräsentanten mit Bordellbesitzern, Rauschgiftschiebern und professionellen Betrügern über die Abwicklung der neuen „Sperrgebietsverordnung“ für die Prostituierten verhandelten - zum erheblichen finanziellen Vorteil der einschlägigen Mafia. Daß derlei Geschäfte nie den Weg in den „urbanen Diskurs“ fanden (oder hätten finden können), lag an der Entwicklung der Kulturpolitik, die den Dissens vornehmlich dort suchte, wo er bloß noch als „Reibung“, als das kritisch-provokative Salz in der Metropolensuppe fungierte.

Auch gegenüber fatalen Personal(fehl)entscheidungen blieb die sprichwörtliche Frankfurter Debattenfreudigkeit merkwürdig resistent. Das Herunterwirtschaften des einst lebendigen Theaters am Turm (TAT) durch den Leiter des Off-TAT-Kulturschirn-Verwal- tungsungetüms, Christoph Vitali, hat selbst nach peinlichsten Offenbarungseiden des künstlerischen Niedergangs keine öffentliche Debatte ausgelöst. Die Fehlbesetzung der Opernintendanz nach Gielen mit dem Konzertdirigenten Gary Bertini ließ erst nach knapp drei Jahren inkompetenten Wirkens die Krägen der Musikredakteure von 'FAZ‘ und 'FR‘ platzen - zu spät: Hoffmann verlängerte Bertinis Vertrag bis 1996. Beim Schauspiel Frankfurt erbarmte sich der glücklose Intendant Rühle und trat zurück, ohne daß ein erfolgversprechender Neuanfang in Sicht wäre. Debattenkultur war auch in diesem Fall nicht auszumachen, bei dem es schließlich so aussah, als hätten die Theaterkritiker dreier großer Tageszeitungen den Sturz des Intendanten herbeigeschrieben.

Hinterzimmerdiplomatie

Auch die Umstände, unter denen die Nachfolgerin von Hilmar Hoffmann bestimmt wurde, waren eher durch provinzielle Kulissenschieberei und Hinterzimmerdiplomatie als durch offene, der öffentlichen Kritik zugängliche Entscheidungsprozesse geprägt. Die frühzeitige Designierung von Lina Reisch, langjährige Lebens- und Weggefährtin von Peter Glotz, bis Ende 1989 Geschäftsführerin des „Kulturforums der Sozialdemokratie“, ließ keinen Raum mehr für den „urbanen Diskurs“. Im Gegenteil, nach einem blamablen öffentlichen Auftritt im Rahmen einer nicht weniger peinlichen Podiumsdiskussion zum Thema „Brauchen wir eine Metropolenkultur?“ rieten prominente Sozialdemokraten der Bewerberin um eines der wichtigsten Ämter der Stadt, sie möge bis zu ihrer Wahl im Stadtparlament solche Debatten meiden. Ein gehässiger, von interessierter sozialdemokratischer Seite lancierter 'Spiegel'-Artikel über ihren „lockeren Umgang mit Geld“, chaotische Büroorganisation und warnende Stimmen in der SPD taten ein übriges, um das große Schweigen auszudehnen. Gelegentliche Anmahnungen zu öffentlicher Diskussion über die zukünftige Kulturpolitik in Frankfurt in der Presse verhallten ebenso wie persönliche Anfragen an die mitregierenden Grünen im Römer, ob sie eine Diskussion möglicherweise durch die Nennung von anderen potentiellen Bewerbern um die Hoffmann -Nachfolge in Gang zu setzen bereit wären.

Nicht wenige Grüne und Sozialdemokraten kalkulierten mit der vermeintlichen Schwäche der designierten Kulturdezernentin, um eigene Ambitionen und Projekte besser durchsetzen zu können. Neue Konzepte der Frankfurter Kulturpolitik zu diskutieren, nach den Revolutionen in Osteuropa noch dringender als zuvor, findet in der rot -grünen Koalition kein Interesse. Die „Spannungen und Widerprüche“, die der Sage zufolge in Frankfurt früher und heftiger als anderswo aufbrechen und Veränderungen provozieren, sind in den vergangenen Jahren gerade durch die kulturalisierte Atmosphäre abgefedert worden. Dabei bestand das Verdienst des ersten Jahrzehnts von Hoffmanns Wirken in Frankfurt gerade in der Wieder- und Neuentdeckung der verschiedenen Künste für den städtischen - heute selbstverständlich: „urbanen“ - Alltag. Das scheinbar unmusische Frankfurt, wo vor allem anderen die politisch -materiellen Antagonismen die öffentliche Kultur prägten, besann sich auf sublimere Formen der Konfrontation mit dem „Anderen“, suchte und fand vermehrt künstlerische Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Veränderungen, die nicht mehr unter dem schützenden Dach politischer Ideologien sich vollziehen mußten, um wahrgenommen zu werden.

Gesamtideelle

Mittelstandskultur

Die Ausdifferenzierung des Kulturangebots hatte eine starke Integrationskraft. „Alternative“ und etablierte Kultur waren längst nicht mehr trennscharf zu unterscheiden. Klassische Musik, allen voran die Oper in der Ära Gielen, zog viele junge Zuhörer an, während zugleich Protagonisten der ehemaligen Subkultur - das „Frankfurter Kurorchester“, der Kabarettist Matthias Beltz, der Musiker Heiner Goebbels, Cornelia Niemann und andere- große Erfolge im in- und ausländischen Kulturbetrieb errangen. Assimilation und gegenseitige Durchdringung der „zwei Kulturen“ verringerten aber gleichzeitig die Reibungsflächen. Peu a peu entstand so in den Achtzigern eine Art gesamtideelle Mittelstandskultur, die sich zunehmend kritischer Beurteilung entzog. Ein pluralistischer Konsens erlaubte Experimente genauso wie Vielfalt in der Einfalt. Mehr und mehr wurden konsumistische Interessen befriedigt, Scharlatanerie als Kunstavantgarde präsentiert und Mittelmäßigkeit zum Maß aller Dinge. So war es kein Wunder, daß die Schauspielinszenierungen von Einer Schleef neben den Ballettpremieren von Willam Forsythe zu den wenigen Paukenschlägen gehörten, die in der städtischen Kultur überhaupt noch streitbare Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen konnten.

Schleef war - bis zu seiner letzten Regiearbeit 1918 der Kulturrabauke der Glitzermetropole. Was die zur Kultur bekehrte Stadt auf dem Weg in die Simulationsgesellschaft verloren hatte, brachte er zurück auf die Bühne des „Bockenheimer Depots“: Antagonistische Konflikte, Zerstörung und Gewalt als bedeutende Momente der Realität.

Nicht zuletzt über die Frage der Qualität solchen Realitätsbezugs stürzte Schauspielintendant Günther Rühle, der schon im Falle der umstrittenen Faßbinder-Premiere Die Stadt, der Müll und der Tod 1985 mehr Mut als Geschicklichkeit bewiesen hatte. Sein Festhalten an Schleef bis zur Gläubigkeit war (und ist) Opposition im Wortsinn, Kehrseite der Metropolenmedaille, an der so vieles gleich und gleich gültig geworden ist.

Hilmar Hoffmanns Kulturpolitik hat in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre versäumt, das - nicht nur materielle Wachstum der Kultur in der Stadt zu verdichten, zu konzentrieren und kompetenten Kontroversen zugänglicher zu machen.

Eines der letzten Projekte, das „Frankfurter Fernsehfestival“, wird trotz großer Einwände unverdrossen weiterverfolgt. Selbst die Tatsache, daß der Initiator der Festivalidee sein Vorhaben unterdessen im Kölner „Mediapark“ verwirklichen darf, konnte die Kulturplaner am Main nicht von ihrem Kurs abbringen.

Es geht ums Prinzip, und das heißt: Bestehen in der kulturellen Konkurrenz mit dem nächstens wiedervereinigten Berlin, mit Paris, London, Rom und Mailand. Etwas auch einmal nicht zu tun fällt einer städtischen Kulturpolitik schwer, deren Normalbetrieb in der beständigen Expansion besteht. In diesem Sinne war die „Ära Hoffmann“ das Wirtschaftswunder einer soziokulturellen Marktwirtschaft, die an die Grenzen des Wachstums gestoßen ist.

Und Linda Reisch?

Was bleibt der designierten Nachfolgerin Linda Reisch? Wenn sie auch noch die letzten Hürden vor ihrer Wahl morgen im Stadtparlament nehmen sollte - Zweifel an ihrer Qualifikation, Murren auf den Hinterbänken der SPD-Fraktion, Zeitungsmeldungen, sie habe Anfang der siebziger Jahre in Berlin für den Verfassungsschutz gearbeitet -, dann wird eine ihrer ersten Aufgaben die Realisierung eines Vorhabens sein, das noch von Hilmar Hoffmann „auf die Schiene gesetzt“ wurde: die Frankfurter „Akademie der Künste“. Über deren Bedeutung für die Stadt heißt es in der beschlossenen Magistratsvorlage: „Die Akademie der Künste soll in diesem Sinne ein Zentrum der produktiven Begegnung zwischen Künsten, Wissenschaften und Politik werden. Der Diskurs zwischen diesen in der Moderne ausdifferienzierten gesellschaftlichen Teilsystemen ist als Problematisierung ihrer jerweiligen Geltungsansprüche zu begreifen. Gerade der Eigensinn des Ästhetischen kann als Korrektiv konkurrierender Geltungsansprüche fungieren und so die dialektischen Beziehungen von Geschichte, Gegenwart und Zukunft je spezifisch thematisieren.“

Es könnte ein erster Coup ihres von sozialdemokratischen Männerbünden eingefädelten und befehdeten Amtsantritts sein, solch rasantem Unfug ein Ende zu machen.