Neu in der Schauburg: „Eine unwürdige Frau“ von P. Hall

■ Falscher Ort Leben

Lilian hat sich hinter ihr Gesicht zurückgezogen. Aber wider besseres Wissen schaut sie doch noch aus Augen. Als wäre sie dahinter am Leben geblieben. Nicht, daß sie zuviel gesehen hätte. Da, wo sie gelebt hat, hat es nichts zu sehen gegeben. Außer dieses Stückchen Mauer hinter dem vergitterten Anstalts-Fenster vielleicht, worauf sie nicht deswegen 60 Jahre gestarrt hat, weil man aus Fenstern eben herausschaut, sondern als hätte sie noch diese eine Wahl gehabt, den Dingen den Rücken zu kehren: der heillosen „Heil„-Anstalt, der Erinnerung. Das Leben als einziger falscher Ort und selbstverständlich unverständlich.

Natürlich ist Lilian normal. Aber was hat sie verrückt gemacht? Harriett interessiert das zuerst auch nicht. Harriett, die backenknöcherne Schöne mit den reiche-Ehefrau -Mundwinkeln, wird plötzlich mit dieser alten Frau konfrontiert, der Tante ihres bis ins Gemüt edelklingig rasierten Gemahles, Finanzmakler, My-fair-Lady -Verbesserungsmentalität, der Tante Lilian wegen Auflösung der Anstalt aufnimmt und kein schlechter Mensch ist.

Aber Lilian spricht nicht und erinnert sich nicht und bewegt sich nicht, kann oder will nicht. Ein Stück unschönes Nippes, mit dem sich eben nicht schöner wohnen läßt. Nur schwieriger leben. Harriet hat aber Witterung aufgenommen: Diese sich vollkommen verweigernde Alte fasziniert -provoziert die formal vollendete Gastgeberin, nicht nur, weil beide auf das gleiche hinaus-laufen: die Lust am „Deplazierten“, am Gefühlsausbruch. Wirklich brechen sie auf - zu einer fast beiläufigen Flucht ins Unwohnliche.

„Eine unwürdige Frau“ ist vielleicht eine Geschichte über die Bewußtlosigkeit der Gesellschaft, aber vor allem ist sie die Geschichte von zwei Frauen: so krass poetisch wie ein stiller See, und so lakonisch tragisch-komisch wie ein vollgeheultes Papiertaschentuch. Als Lilian Harriett, die während der kleinen großen Ausflucht an einer Frühgeburt beinahe zugrundegeht, mit zu Tode entschlossenen Augen vor den herangleichmarschierenden „Rächern“ beschützt, ist das von solch einer Kraft, daß wir, wenn wir ein Papiertaschentuch hätten, kleine stille Seen auf dem Kinoboden hinterlassen könnten. Wenn wir wirklich wollten. Claudia Kohlhas

Peggy Ashcroft und Geraldine James haben in Venedig 1989 den Preis für die beste schauspielerische Leistung bekommen.