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VITALOMANIE

■ Neue brasilianische Filme im Arsenal

Zuckerhut in Schwarzweiß und Zuckerhut in Farbe, sich durch die Straßen drängende Menschenkörper in Grau und später in Bunt, Sambarhythmen und eingeschobene Kommentare, die Konterfeis der beiden Vitalomanen Orson Welles und Blaise Cendras - zwei Filme, die „Brasilien zwischen Fiktion und Wirklichkeit neu entdecken wollen“, ein Vorhaben, daß sich dort „brasiliade“ nennt.

Nicht alles ist wahr: Unter diesem Titel, der einen Besuch Orson Welles‘ in Brasilien 1942 zum Vorwand nimmt, um Wochenschaumaterial der Zeit, Fotos des Regisseurs und Spielfilmszenen in flottem Wechsel gegeneinanderzuschneiden, schwingt sich der Film von Rogerio Sganzeria (1985) tatsächlich an Fiktion und Wirklichkeit gleichermaßen vorbei. Die hervorragenden schwarzweißen Dokumentaraufnahmen von Schauplätzen in Rio de Janeiro, vom Karneval und den schönsten Frauen der Zeit, von politischen Veranstaltungen und Tanz in der Stadt werden nur schockartig kurz eingeblendet, um eine Art Rahmen abzugeben für eine hysterisch-buntfarbige Wiederbelebung von Orson Welles, der hier nur Babyface, Säufer und Frauenheld ist.

In diesem Schnitt- und Montagewirbel geht alles in eins: die in einem Theaterambiente als Interviewsituation aufbereiteten Tagebucheintragungen von Orson Welles; der Bericht darüber, daß sich der Regisseur zunehmend für die Geschichte des Sambas zu interessieren und die Elendsviertel zu filmen beginnt, weswegen er sich bei den dortigen Behörden unbeliebt macht; die Ankunft von Jangadafahrern, deren unglaubliche Fahrt auf einem Floß über 1.500 Seemeilen Welles rekonstruieren möchte, mit dem Ergebnis, daß der Held des Teams bei den Vorbereitungsarbeiten zum Film ertrinkt; die Tatsache zuletzt, daß Welles aufgrund der behördlichen Behinderung das Projekt abbrechen und in die USA zurückkehren muß.

Ein 100% brasilianischer Film von Jose Sette de Barros (1986), der mit der Ankunft des französischen Schriftstellers und Weltumschreibers Blaise Cendras 1924 in Rio beginnt, braucht die reale Kulisse nicht einmal mehr: Vor gemalten Paravents erzählt die Blaise-Cendras -Schmierencharge von ihren Erfahrungen in Brasilien, spricht nicht weniger gespreizt als die Schmierencharge von Orson Welles mit einer Schmierencharge „heutiger Dichter“ über ihre „große Faszination“. Karneval, Kannibalismus, Homosexualität, kollektiver Wahnsinn, Exzeß - in künstlicher Wiederentfachung alter Reizwörter scheint sich auch das moderne Brasilien zu gefallen. Und Fremde als Zeugen heranziehen zu müssen zur Beglaubigung der eigenen Identität. Bleibt nur zu hoffen, daß das so wenig 100% Brasilien ist, wie der Titel des ersten Films Nicht alles ist wahr sich tatsächlich als wahr erweist.

Michaela Ott

Neue brasilianische Filme, 10. bis 13.Mai, Retrospektive: Glauber Rocha, 8. bis 30.Mai, Arsenal, Welserstraße. 25, Tel. 24 68 48.

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