Aufrüstung der Festungsmauern

Mit der „Harmonisierung“ der Asyl- und Visabestimmungen will das reiche Europa die Zuwanderung stoppen  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

Noch herrscht bürokratisches Chaos an den Toren Westeuropas. Bulgaren können ohne Visum nach Dänemark reisen, die Bewohner des römischen Vatikan-Staats müssen hingegen für einen Griechenlandtrip ein Visum beantragen. Für Maghrebiner herrscht zwar in Frankreich Zuzugssperre, über die europäischen Nachbarstaaten, die sie mit Visum besuchen können, erreichen sie ihr Traumland trotzdem mühelos. Mit der lückenvollen Vielfalt soll es jedoch bald vorbei sein: „Harmonisierung“ des westeuropäischen Asylrechts und der Visabestimmungen ist das Zauberwort, mit dem Innen- und Außenminister des reichen Europas die Völkerwanderungen aus dem Süden und Osten ins neue El Dorado stoppen wollen. Stichtag für eine geeinte „Ausländerpolitik“ ist der 1. Januar 1993, wenn im Europa der Zwölf die internen Grenzen fallen sollen. Parallel dazu werden westeuropaweit die äußeren Grenzen aufgerüstet. Ob Ausländer in bislang einreisefreundlichen Ländern wie Dänemark oder Griechenland ankommen oder in Hardliner-Staaten wie Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik - in Zukunft sollen sie überall nach den selben Vorschriften eingelassen oder abgewiesen werden.

Eine sogenannte Negativliste, auf der die Länder verzeichnet sind, deren Bürger von der Visabefreiung ausgenommen werden, dient dabei als Anleitung. Denn neben den traditionellen Einwanderern aus Sri Lanka, Pakistan oder der Türkei drängen neuerdings hunderttausende Nordafrikaner ins Überfluß-Europa. Für dieses Jahr wird außerdem mit weit über einer Million Polen, Ungarn, Rumänen, DDRlern und Deutschstämmigen gerechnet. Sie vergrößern täglich die Zahl der acht Millionen Nicht-EG-Bürger, die sich in der Festung von zusammen über 330 Millionen Bewohnern bereits niedergelassen haben.

Noch bereitet den Ministern die Einebnung der aus der Kolonialgeschichte herrührenden unterschiedlichen Behandlung beispielsweise der Pakistani in Großbritannien oder der Algerier in Frankreich Probleme. Auch die Anerkennungspraxis für Asylsuchende ist von Land zu Land unterschiedlich. Deshalb wurde das „Trevi-Komitee“ gegründet, um die innere Sicherheit auf EG-Ebene sicherzustellen. Vorläufiges Fazit: Ein EG-weiter Informationsaustausch über die persönlichen Daten der Antragsteller ist geplant. Den Datenschnüfflern kommt dabei zugute, daß in einigen EG-Ländern wie Belgien Datenschutz ein Fremdwort ist.

Doch auch in Zukunft wird die Devise „Schotten dicht“ nicht für alle Besucher in gleicher Weise gelten. Weiß-europäische Lagermentalität führt dazu, daß Europäer bevorzugt behandelt werden sollen. Gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuropas besteht dann auch bei den Ministern inzwischen eine weitgehende Bereitschaft, die Visapflicht gänzlich abzuschaffen. Am meisten Probleme bereiten dabei allerdings die ausreisewütigen Polen, von denen viele als Touristen in die EG kommen und dann einfach dableiben. Aber auch die 700.000 Deutschen, die in den letzten Jahren aus der Sowjetunion, Polen, Rumänien und der DDR kamen, bereiten Kopfzerbrechen. Schließlich, so argumentieren die Regierungen Frankreichs und der Beneluxstaaten, verdrängen die deutschen Übersiedler türkische und jugoslawische Gastarbeiter aus der BRD, die nun ihr Glück weiter westlich suchen. Selbst die Unterzeichnung des Schengener Abkommens, mit dem Frankreich, die Beneluxländer und die Bundesrepublik den Abbau der Grenzkontrollen vorexerzieren wollten, verzögerte sich, weil sich die Partnerregierungen unter anderem nicht über die Freizügigkeit der DDR-Deutschen im Vertragsraum einigen konnten. Dieses Problem scheint jetzt gelöst; das Abkommen soll spätestens im Juni unterzeichnet werden.

Um die EG-Pforten leichter schließen zu können, basteln die Minister an völkerrechtlichen Konventionen zur Asyl- und Visapolitik, die den „Vorteil“ haben, daß sie nicht der Zustimmung des Europaparlaments bedürfen. Eine Völkerrechtskonvention ist kein EG-Gesetz, es können ihr auch andere Länder wie die Schweiz oder Österreich beitreten. Sie kann mit einfacher Mehrheit von den nationalen Parlamenten verabschiedet werden. Um der Diskussion über „zuzugsbegrenzende und aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ überdies einen Schub zu versetzen, will der italienische Außenministers Gianni De Michelis im Herbst eine EG-Regierungskonferenz zu dem Thema einberufen. Italien beherbergt zur Zeit mehr als 1,6 Millionen Einwanderer. Über die Häfte sind illegal eingereist. Da Marokkaner, Tunesier und Libyer nicht nur den italienischen Kleinhändlern das Geschäft mit Sonnenbrillen und Ramschuhren verderben, sondern auch die Mafia beim Drogenhandel stören, schlägt der italienische Außenminister seit kurzem die Werbetrommel für einen EG-weiten Kampf gegen Wirtschaftsflüchtlinge und illegale Immigranten. Die tunesische Regierung fordert dagegen einen euromediteranen Wirtschaftraum: Die Schulden der Maghreb-Länder sollen in Investitionen umgewandelt werden, um Arbeitsplätze in diesen Ländern zu schaffen und so die Auswanderung einzuschränken.