Eine Armee gegen einen Obstpflücker

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Ein tunesischer Landarbeiter überquert mit dem Fischerboot die Meerenge zwischen seinem Heimatland und Sizilien, um auf der italienischen Insel die gleiche Apfelsorte wie zu Hause zu ernten, allerdings für zehnmal mehr Lohn. Nur, weil er wie jeder andere Arbeiter, sich seinen Arbeitsplatz nach der besseren Bezahlung aussucht, gerät die heile Welt der Europäer in Aufruhr. Schon wird erwogen, die italienische Armee gegen ihn zu mobilisieren. Obwohl Europas Landwirtschaft ohne Saisonarbeiter gar nicht mehr auskommt. Auch die Mafia will sich ihr Geschäft nicht verderben lassen, obwohl Arbeiter aus Tunesien, Marokko und Polen nicht nur bei der Ernte aushelfen, sondern auch im Baugewerbe. Trotzdem: Das Gewimmel fremdländischer Gesichter und Volkstrachten und die Zunahme exotischer Restaurants in Europas Hauptstädten geht offensichtlich zu weit. Fast überall in Westeuropa nimmt die Ausländerfeindlichkeit zu.

Ein Widerspruch ist zu konstatieren: Europa ist Teil der Triade, die den Weltmarkt beherrscht. In dieser Funktion pflegt es vielschichtige Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die von Menschen getragen werden. Folge: eine rege Ein- und Auswanderung. Gleichzeitig sehen die Europäer in jedem Fremden einen potentiellen Schmarotzer, der ihnen ihren Reichtum rauben könnte. Immigration wird immer weniger mit der weltweiten wirtschaftlichen Ungleichheit in Verbindung gebracht, mit mangelnder oder fehlerhafter Entwicklungspolitik, mit Bevölkerungswachstum und der Nachfrage der westeuropäischen Wirtschaft nach billigen Arbeitskräften. Sondern Einwanderung wird zunehmend als ein Problem der öffentlichen Ordnung gesehen.

Europa erweist sich als integrationsunfähig. Es sucht nach Lösungen für das „Ausländerproblem“. Die französischen Sozialisten verfolgen dazu eine Doppelstrategie: Sie sagen, sie sind gegen Rassismus, aber auch gegen Immigration. Sie argumentieren, es gebe in Frankreich eine Mehrheit gegen Rassismus, die es zu mobilisieren gelte. Deshalb hat die Regierung auch das von den Kommunisten eingebrachte Gesetz gegen Rassismus unterstützt, das immerhin einen Schutz der Minderheiten darstellt. Daneben gibt es aber auch eine Mehrheit gegen Immigration, die Le Pen mobilisiert und die bis in die Reihen der Sozialisten und Kommunisten hineinreicht. Auf diese Mehrheit zielt Mitterrands zweite Gesetzesinitiative, eine Kopie des Ausländergesetzes, das vor zwei Wochen in Bonn verabschiedet wurde.

Die Bundesrepublik definiert sich mit diesem Gesetz als ein de facto an rassistischen Kriterien orientierter Nationalstaat, der kein „Einwanderungsland“ ist, sondern Arbeitskräfte nach Bedarf ein- und ausrotieren läßt. Die Immigration der sechziger Jahre wird als historischer Fehler betrachtet, den in Zukunft zu vermeiden, eine rigide Visums und Ausweisungspolitik helfen soll. Dennoch wird sich der „Fehler“ der sechziger Jahre wiederholen. Er wiederholt sich jetzt schon jeden Tag. Mit der Öffnung Osteuropas und zunehmenden Wirtschaftsbeziehungen mit dieser Region wird die Einwanderung sogar noch zunehmen. Der Unterschied: Die weißen Immigranten aus dem Osten werden den schwarzen aus dem Süden vorgezogen.

Westeuropa scheint sich also entschieden zu haben: gegen eine liberale, demokratische und offene Gesellschaft. Die Europäer ziehen es vor, sich in einer Festung des Wohlstandes einzumauern, ganz so, als sei dieser Reichtum nicht im Austausch mit anderen Völkern der Erde entstanden. Dieses Nachgeben rassistischer und nationalistischer Lösungsansätze belebt alte Feindbilder - die den Traum von einem freien und offenen Europa begraben.

Ali Yurttagül

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen -Fraktion im Europäischen Parlament und dort zuständig für Immigranten- und Asylpolitik.