Die Frauen bei der Auskunft: „Vollzeit ist Mord“

Poststreik: An Rhein und Ruhr legten gestern die Angestellten bei der Telefonauskunft die Arbeit nieder Mit den Computern hat der Streß zugenommen / Protest gegen den Zeitklau / „Arbeit darf nicht kaputtmachen  ■  Aus Essen Bettina Markmeyer

Der Streß hat die Farbe Rot. Solange das rote Lämpchen aufleuchtet, wartet einE AnruferIn in der Leitung auf Bedienung. An den Reihen roter, grüner und gelber Lämpchen kann die Aufsicht von ihrem Platz aus jederzeit überblicken, wie schnell die AnruferInnen bedient werden. Schaltet sich die Frau oder der Mann von der Auskunft ein, leuchtet es grün. Schalte man sich zu langsam ein, „kommt die Aufsicht auch schon mal zum Platz und fordert einen auf, schneller zu arbeiten“, erklärt ein junger Mann, der in der Fernsprechauskunft im fünften Stock des Essener Fernmeldeamts arbeitet. Heute jedoch nicht, denn heute wird in der Essener Auskunft gestreikt. Und nicht nur dort: Auch in Düsseldorf, Mönchengladbach, Duisburg, Köln und Bonn bekommt man bei der Fernsprechauskunft in NRW heute keinen Anschluß. In Dortmund liegt die Entstörungsstelle lahm.

„Für mich ist die Kontrolle bei der Arbeit die größte Belastung“, sagt eine zierliche, dunkelhaarige Frau, die mit einer Kollegin und den Streikposten ebenfalls vor dem Tor steht. Ihre Namen mag sie, wie die anderen auch, nicht nennen. Der Psychostreß komme zu einem enormen Zeitdruck hinzu: „Wir geben bis zu 80 Auskünfte in einer Minute.“ „Wenn du erst den Kopfhörer aufhast, hast du keine Zeit mehr, Atem zu holen“, setzt ihre jüngere Kollegin hinzu, die bis Ende des Jahres einen Vertrag als Aushilfe hat.

An der Rückwand des gelben Zelts vor dem Pförtnerhäuschen haben Helmut Dettmer von der Essener Ortsverwaltung der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und Streikhelfer ein Plakat mit dem Motto der Warnstreiks aufgehängt: „Arbeit darf nicht kaputtmachen“. Es gehe nicht um mehr Pausen für die in der Öffentlichkeit ohnehin als tendenziell träge angesehenen Bediensteten der Post. Vielmehr wolle „die Gewerkschaft im Tarifvertrag mit festlegen, welche Arbeit in welcher Zeit geschafft werden muß“. Daß Bemessungsvorgaben in Zukunft in die Tarifverträge eingehen sollen, gestanden die Arbeitgeber nach längerem Herumdrucksen bereits am Dienstag abend zu. In den auch gestern fortgesetzten Verhandlungen geht es nun konkret um die Minuten, die den ArbeitnehmerInnen bei der Berechnung der Arbeitsmenge pro Stunde zum Zurücklehnen, Naseputzen oder auch für die Lektüre dienstlicher Verfügungen zugestanden werden.

Diese Zeitzuschläge hatten Bundespost und Gewerkschaft bereits 1971 in einem „Personalbemessungsabkommen“ für besonders stressige Frauenarbeitsplätze bei der Auskunft oder der noch immer weitgehend manuell abgewickelten Postverteilung vereinbart. Ausgerechnet mit der Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden jedoch machte sich Postminister Schwarz-Schilling daran, diesen sozialen Standard zu unterlaufen. Statt, wie nach dem Tarifabschluß vom Herbst 1988 angekündigt, neue Leute einzustellen, strich er pro Tag 15 Minuten der Erholungszeit. Mit diesem Zeitklau hatte der Arbeitgeber die Arbeitszeitverkürzung zum Nulltarif: In weniger Zeit mußte mehr geschafft werden. Neu eingestellt wurde niemand. „Bei den sogenannten Erhol-, Verteil- und Nebenzeiten wollen wir wenigstens auf den alten Stand wie bei der 40-Stunden-Woche zurück“, sagt Helmut Dettmer, „und dann müssen sie zwangsläufig auch neue Leute einstellen.“

Derweil behilft man sich im fünften Stock mit Aushilfen aus anderen Abteilungen. Trotz der spärlichen Besetzung Stimmengewirr und Betriebsamkeit in dem Großraumbüro. Zu hören ist das allseits bekannte: „Hier Auskunft, Platz 2“, dazu Zahlengemurmel und das Tippen auf den Computertastaturen. Die Computer haben die Arbeit schneller, aber auch einfacher gemacht. „Früher mußten wir erst den Mikrofilm einlegen und dann suchen“, erklärt die Gruppenleiterin, die hier die Aufsicht führt. Heute werden nur noch die ersten Buchstaben eines Namens eingetippt sofern es sich nicht um einen „Allerweltsnamen“ handelt dann erscheint schon die Nummer auf dem Bildschirm. Sie durchzugeben und per Knopfdruck den nächsten Teilnehmer in die Leitung zu holen geht ineinander über. Die Frauen und Männer mit den Kopfhörern haben kaum Zeit aufzublicken. Einige von ihnen tragen knallorangene Sticker: „Ich bin Beamter, ich bin solidarisch“. Lieber würden sie jetzt mit den anderen KollegInnen vor dem Tor stehen. Die Gruppenleiterin, seit 33 Jahren bei der Auskunft, ist „für den Streik“. Zwar bestätigt sie, daß die Frauen mit den Computern lieber arbeiten würden als mit den alten Mikrofilmgeräten, doch sieht sie auch, daß der Streß zugenommen hat. Entsprechende Erholzeiten seien unbedingt notwendig.

„Seit 18 Jahren bin ich dabei“, sagt eine Frau vor dem Tor. „Aber immer nur Teilzeit. Vollzeit, das ist Mord! Würde ich nicht machen.“ Sie winkt ab und geht, um ihr Streikgeld abzuholen. Die Gewerkschafter haben das Geld gleich mitgebracht: Zu unterschiedlich sind die Arbeitszeiten der Auskunftsfrauen, um sie, so Helmut Dettmer, „noch mal zusammenzubringen“. „Jeden Tag“, erklärt eine, „haben wir eine andere Schicht.“ Die Arbeitszeit liegt zwischen 7 und 24 Uhr. Für die meisten Frauen seien Teilzeitarbeit und die wechselnden Arbeitszeiten der Grund, trotz Streß bei der Auskunft zu bleiben: „In der freien Wirtschaft ist es noch schwieriger, wenn man Kinder hat.“