Geschlossene Front von Arbeitern und Bauern

■ Landesweite Protestaktionen gegen sozialen Abstieg / Lehrer streikten, Kindergärten blieben zu, Bauern blockierten Grenzübergänge, Schuhproduzenten verschleuderten Erzeugnisse auf Märkten / D-Mark-Euphorie verflogen: „Eigene Erzeugnisse sind auch nicht schlecht!“

Berlin (taz/adn) - Mit Streiks und Protestaktionen machten gestern im ganzen Land Leder- und Textilarbeiter, Pädagogen, Lehrer und Bauern ihrem Ärger Luft. An die Adresse der Regierung gerichtet, forderten Sie klare Regelungen zur sozialen Absicherung nach der Wirtschafts- und Währungsreform. Die Bauern fordern Schutzmaßnahmen gegen die zunehmenden Lebensmittelimporte aus der Bundesrepublik.

Es scheint, als sei die Zeit der Euphorie über die kommende deutsche Einheit und die DM vorbei. Vielen Bürgern wird jetzt mit Erschrecken klar, welche Probleme mit der DM und dem gemeinsamen Markt auf sie zukommen. Die Textil- und Lederbranche kann derzeit kaum noch ihre Produkte absetzen. Der Markt wird mit Billigprodukten aus Fernost überschwemmt. Landesweit streikten deshalb die Werktätigen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Mit Verkaufsaktionen auf den Marktplätzen wollten sie zeigen: Unsere Produkte sind gut!

Ihre Forderungen richten sie an die Regierung. Die soll schnell eine Entscheidung über die Preisreform treffen, damit die Betriebe mit den Importen konkurrieren können. Die Schuhwerker hatten bereits in der letzten Woche einen Warnstreik organisiert. Versuche, mit dem Wirtschafts- und Handelsministerium zu Gesprächen oder gar Lösungen zu kommen, schlugen am letzten Wochenende fehl.

Die Bauern und Landarbeiter der Republik blockierten gestern zum wiederholten Mal mit Traktoren, Schleppern und anderen Nutzfahrzeugen Grenzübergänge zur Bundesrepublik. Der Übergang Wartha bei Eisenach war eine Stunde blockiert. Die Blockade war von der Gewerkschaft organisiert worden. Auch von Magdeburg aus machten sich Traktoren auf den Weg Richtung Grenze.

Als einzige Wählergruppe in der DDR haben die Bauern ihren Protest am letzten Sonntag bei den Kommunalwahlen zum Ausdruck gebracht. In ländlichen Gebieten konnten die beiden Bauernparteien bis zu 25% der Stimmen gewinnen.

Streik gestern auch bei Pädagogen und Lehrern. In verschiedenen Städten fiel der Unterricht aus und blieben die Türen der Kindereinrichtungen geschlossen. Viele Eltern in den Bezirken Neubrandenburg, Frankfurt/Oder und Magdeburg und anderer Bezirke konnten ihre Kinder nicht in den Kindergarten bringen. In Berlin-Hohenschönhausen blieben die Kindergärten den ganzen Tag geschlossen. Die Pädagogen fordern den Erhalt der Kindertagesstätten.

Vor dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft demonstrierten am Vormittag rund 2.000 Pädagogen. Sie verlangten die Anerkennung ihrer beruflichen Abschlüsse und Kündigungsschutz, außerdem den Erhalt ihrer Altersversicherung.

Im Bezirk Halle schlossen sich auch Lehrer den landesweiten Warnstreiks an. Auch sie sind über die Aussagen des Bildungsministers, der die Gehaltsforderungen der Lehrer und Pädagogen als „völlig unrealistisch“ bezeichnet hatte, sauer. Sie ließen den Unterricht ausfallen, informierten aber Eltern und Schüler über ihr Anliegen und ihre Forderungen. Auch im Bezirk Neubrandenburg streikten die Lehrer für eine Stunde. Der Streik wurde von der Gewerkschaft unterstützt, stieß aber beim Allgemeinen Verband der Pädagogen auf Kritik. Der hielt Proteste außerhalb der Arbeitszeit für sinnvoller.

Brigitte Fehrle Siehe Tagesthema Seite 2 und 3