Ende der Tarifpolitik des alten Stils

Der Göppinger Kompromiß im Tarifkonflikt der Metallindustrie markiert eine Wende in der Arbeitspolitik / Von der Kollektivregelung zur individuellen Entscheidung  ■  Von Martin Kempe

Als der Stuttgarter IG-Metall-Bezirksleiter Walter Riester am letzten Sonnabend das Ergebnis der diesjährigen Tarifauseinandersetzung in der großen Tarifkommission vorlegte, schwankte die Stimmung zwischen ungläubigem Erstaunen und offener Begeisterung. An mehreren Stellen wurde er durch Beifall bei seinem Vortrag unterbrochen. Und als es am Ende zur Abstimmung kam, fand sich nicht eine einzige Gegenstimme. Das hatte es in der langen Geschichte spektakulärer Tarifabschlüsse im traditionsreichen Südwesten noch nicht gegeben.

Tatsächlich ist den Metallern aus Stuttgart mit dem Tarifabschluß von Göppingen ein großer Wurf gelungen. Experten loben ihn in den höchsten Tönen als Schritt in eine neue tarifpolitische Zukunft, obwohl die IG Metall in den Verhandlungen auch Federn lassen mußte.

Die Wochenarbeitszeit in der Metallindustrie wird am 1. April 1993 auf 36, am 1. Oktober 1995 auf 35 Stunden verkürzt. Damit hat die IG Metall ihre Forderung, die 35 -Stunden-Woche abschließend zu regeln, durchsetzen können aber nicht so schnell, wie es im Interesse einer wirksamen Arbeitsumverteilung zugunsten der Arbeitslosen notwendig gewesen wäre. Zusätzlich haben sich die Arbeitgeber zusichern lassen, daß bei Bedarf über eine weitere Verschiebung des Inkrafttretens der Arbeitszeitverkürzung verhandelt werden muß. Erzwingen können sie eine derartige Verschiebung allerdings nicht.

Langsam 35-Stunden-Woche

Die Laufzeit für die Arbeitszeitregelung geht bis 1998. Die Strategie der Arbeitszeitverkürzung als eigenständiger gewerkschaftlicher Beitrag zum Kampf gegen Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit ist damit also mindestens bis zur Jahrtausendwende auf Eis gelegt. Die Forderungen der Gewerkschaftsfrauen, im Interesse Umverteilung von Erwerbs und privater Familienarbeit zwischen den Geschlechtern die Arbeitszeitverkürzung so schnell wie möglich in Richtung 30 -Stunden-Woche weiterzutreiben, sind damit ebenfalls vorerst vom Tisch.

Dennoch wird das erzielte Ergebnis von den Metallern nicht als Einschränkung ihres Erfolges empfunden. In den Betrieben gab es eine deutliche Priorität für Lohnerhöhungen, während die Modalitäten und Zeiträume der Arbeitszeitverkürzung eher als „Kompromißmasse“ gehandelt wurden. Einigkeit bestand lediglich darin, daß „die 35“ im Vertrag stehen sollte. Dieses Ziel wurde erreicht. Erreicht wurde erstmals, wenn auch nur als letztlich unverbindliche Absichtserklärung, daß es wegen der Arbeitszeitverkürzung keine Leistungsverdichtung in den Betrieben geben soll.

Gefordert hatte die IG Metall 8,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 DM mehr. Die Forderung nach Festgeldbeträgen für eine überproportionale Anhebung der unteren Lohngruppen gab es schon in früheren Lohnrunden. Aber während sie früher regelmäßig unter den Verhandlungstisch gefallen sind, wurde sie diesmal ansatzweise durchgesetzt: Für April und Mai gibt es einen Festbetrag in Höhe von 215 DM, zusätzlich wird ein einmaliger Festbetrag von 240 DM ausgezahlt. Nach Berechnungen der Stuttgarter IG-Metall-Bezirksleitung ergibt dies für die unteren Lohngruppen eine effektive Lohnerhöhung von annähernd zehn Prozent, also vier Prozent mehr als für die oberen.

Trotz dieser überproportionalen Anhebung der unteren Lohngruppen ist damit die verzerrte, diskriminierende Lohnstruktur kaum angetastet. Die Anhebung der unteren Lohngruppen und die Reform der gesamten Lohnstruktur soll ein tarifpolitischer Schwerpunkt der nächsten Jahre sein.

Die Voraussetzugen dafür sind günstiger als in den letzten Jahren, in denen die Gewerkschaft sich auch für die Löhne auf langjährige Stufenpläne festgelegt hatte. Im Göppinger Kompromiß aber wurden die Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung und zum Lohn erstmals seit 1984 wieder entkoppelt: Während für die Arbeitzeit ein Stufenplan bis 1995 und eine Laufzeit bis 1998 vereinbart wurde, ist man beim Lohn wieder zur traditionell einjährigen Laufzeit zurückgekehrt, die beiden Tarifparteien ein flexibles Reagieren auf die wirtschaftliche Entwicklung erlaubt.

Recht auf Flexibilisierung

Das größte Aufsehen beim Göppinger Kompromiß erregte die Bestimmung, wonach die oberen 18 Prozent der Beschäftigten in Zukunft das Recht haben, zwischen der 40- und der 35 -Stunden-Woche zu wählen, oder - wie die Arbeitgeber lieber sagen - „freiwillig 40 Stunden in der Woche zu arbeiten“. Genau dies ist das Interesse der Arbeitgeber: Sie wollen die qualifizierten Fachleute möglichst lange im Betrieb sehen und nehmen dafür gern entsprechend höhere Lohnkosten in Kauf.

Die Gefahr einer solchen Regelung liegt in der Spaltung zwischen den ohnehin privilegierten und durchsetzungsfähigen Beschäftigtengruppen, den Meistern, Ingenieuren, qualifizierten Technikern auf der einen Seite, und dem großen Rest, dem eine solche Wahlmöglichkeit nicht eingeräumt wird, auf der anderen Seite. Gleichzeitig sehen Kritiker die Gefahr, daß früher erkämpfte Arbeitszeitverkürzungen für einen Teil der Beschäftigten wieder rückgängig gemacht werden können.

Bei der Stuttgarter IG Metall hält man dagegen gerade diese Bestimmung für einen epochalen Durchbruch in Richtung auf eine moderne Tarifpolitik. Schon bisher sei ein Teil der höher qualifizierten Beschäftigten, insgesamt rund 14 Prozent der Belegschaften, von der Arbeitszeitverkürzung ausgenommen worden und habe zwangsweise weiterhin 40 beziehungsweise 39 Stunden arbeiten müssen. Zwar sei diese Gruppe auf Verlangen der Arbeitgeber nun etwas ausgeweitet worden. Aber andererseits könne jetzt niemand mehr gegen seinen Willen zur Arbeit über die Normarbeitszeit von 35 Stunden hinaus gezwungen werden.

Gerade in der Freiwilligkeit sieht die Gewerkschaft, ganz entgegen ihrer bisherigen Vorliebe zu kollektiven Regelungen, einen erkämpften Zuwachs für individuelle Autonomie. Nach Einschätzung der Gewerkschaft werden die Hoffnungen der Arbeitgeber, die qualifizierten Fachleute nun geschlossen wieder für die 40-Stunden-Woche gewinnen zu können, nicht in Erfüllung gehen. Die Gewerkschaft setzt dabei auf einen „Wertewandel“ bei den finanziell gut ausgestatteten „modernen Arbeitnehmern“, die zwar ein professionelles Verhältnis zu ihrer Arbeit haben, aber auch ausgeprägte private, soziale und kulturelle Interessen. Die Gewerkschaft vermutet daher eine große Bereitschaft, Freizeit statt Geld zu wählen.

Das grundlegende tarifpolitische Innovation liegt darin, im Gegensatz zu früheren für alle verbindlichen Kollektivregelungen den einzelnen Beschäftigten selbst das Recht auf Gestaltung ihrer Arbeitszeit zu geben. Die Betroffenen können in Zukunft Woche für Woche 35 Stunden arbeiten, sie können aber auch 40 Stunden arbeiten und damit wöchentlich fünf Stunden Freizeit ansammeln, die innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren genommen werden müssen. Auf diese Weise können sie zum Beispiel in zwei Jahren Freizeitblöcke von zwei Monaten ansammeln. Sie können aber auch 40 Stunden wöchentlich arbeiten und sich diese ausbezahlen lassen oder aber irgendeine Zwischenform wählen.

In Zusammenhang mit den fortbestehenden Überstundenregelungen eröffnet sich dadurch zum Beispiel für EDV-Experten die in Umfragen häufig gewünschte Möglichkeit des Wechsels zwischen Phasen intensiver Projektarbeit und als Ausgleich - längeren, zusammenhängenden Freizeitblöcken.

Derartige Lösungen werden nicht nur von vielen Beschäftigten gewünscht, sie entsprechen auch den Interessen der Unternehmer an möglichst effektivem Einsatz ihrer hochqualifizierten Fachkräfte. Dies mag ihnen die Zustimmung erleichtert haben, obwohl sie damit rechnen müssen, daß nicht alle sich für lange Arbeitszeiten und Geld entscheiden werden. Gleichzeitig spekulieren sie offensichtlich darauf, daß ein großer Teil der Betroffenen unter dem Druck der betrieblichen Hierarchie die von oben erwünschte Möglichkeit wählen werden. Zwar steht im Tarifvertrag, daß es keine Diskriminierung jener geben darf, die Freizeit statt Geld wählen. Aber dennoch darf unterstellt werden, daß hier ähnlich wie bei der Teilzeit unterschwellig Wohlverhaltenskriterien entstehen können, die dann in der betrieblichen Praxis über Aufstieg und berufliche Förderung entscheiden.

Auch hier gibt es eine vorhersehbare geschlechtsspezifische Komponente: Es ist absehbar, daß bei gleicher Qualifikation die weiblichen Beschäftigten sich eher für möglichst viel Freizeit entscheiden werden, die aufstrebenden, karriere und statusbewußten Männer dagegen für lange Arbeitszeiten und mehr Geld. Wenn die Gewerkschaft nicht sehr aufpaßt, kann die gefundene Regelung sich unter der Hand in ein Instrument geschlechtgsspezifischer Selektion verwandeln.

Positiv dürfte von den Betroffenen aufgenommen werden, daß sie in Zukunft ein Vorschlagsrecht über die Lage und Verteilung ihrer Arbeitszeit haben sollen. Eingeschränkt wird dies nur durch begrenzende Rahmenbestimmungen, zum Beispiel das - im Gegensatz zur Unternehmerforderung weitergeltende lange Wochenende, Tageshöchstarbeitszeiten, Begrenzung von Mehrarbeit und so weiter. Insgesamt jedoch beinhaltet all dies einen Zuwachs an Mitbestimmung für die einzelnen Beschäftigten, der in Zusammenhang mit bereits bestehenden Regelungen etwa zur Gleitzeit eine weitgehende Berücksichtigung persönlicher Arbeitszeitbedürfnisse ermöglicht.

Gegen Blüms Arbeitsmarkt

Seit langer Zeit fordern die Gewerkschaften mehr Sicherheit für die ungeschützten, prekären Arbeitsverhältnisse, die unterhalb der Versicherungsgrenze und häufig nur befristet eingestellten Beschäftigten. Bisher haben sie eine weitere Ausdehnung dieses „zweiten Arbeitsmarktes“ nicht verhindern können, zumal das von Bundesarbeitsminister Blüm vor Jahren durchgesetzte „Beschäftigungsförderungsgesetz“ den Unternehmern größere Möglichkeiten zu befristeten Einstellungen verschafft hat. In der Metallindustrie werden diese Möglichkeiten nun durch Tarifvertrag wieder drastisch eingeschänkt. Arbeitsverhältnisse, so heißt es im Göppinger Kompromiß, sollen grundsätzlich unbefristet abgeschlossen werden, wenn es sich um ständig vorhandene Arbeiten handelt. Auch können die Unternehmer in Zukunft nur von solchen Beschäftigten Schichtarbeit verlangen, die ausdrücklich dazu eingestellt wurden.

Die spektakulärste Wendung hat die Gewerkschaft allerdings in Sachen Teilzeitarbeit vollzogen. Während sie früher gegen Teilzeitarbeit zu Felde gezogen ist, fordert sie nun das Recht auf Teilzeitarbeit und hat in den Tarifvertrag reinschreiben lassen, Teilzeitarbeit solle „nach Möglichkeit gewährt“ werden. Allerdings soll sie nur oberhalb der Versicherungsgrenze gestattet sein. Mit diesem Schwenk glaubt die Gewerkschaft nicht nur einem Bedürfnis vieler Frauen entgegenzukommen, sondern auch jener finanziell reich ausgestatteten technischen Spezialisten, die auch mit der Hälfte ihres Gehalts noch gut leben können und ausgeprägte Freizeitinteressen haben.

Tarifpolitik für Individuen

Alles in allem markiert der Göppinger Kompromiß eine Wende in der Tarifpolitik der Gewerkschaften. Erstmals sind in ihm bewußt Akzente gesetzt worden, die den „mündigen Bürger“ auch im Arbeitsleben ernst nehmen - wenn auch vorerst nur für die Minderheit der oberen 18 Prozent. Im Mittelpunkt dieser Regelungen steht nicht die vertraglich zwischen den Tarifparteien ausgehandelte oder ausgekämpfte kollektive Regelung von Arbeitsverhältnissen für alle, sondern die selbständige Entscheidungsmöglichkeit der einzelnen Beschäftigten. Die Rolle der Gewerkschaft, der Betriebsräte und Vertrauensleute wird sich, wenn derartige Strategien ausgebaut werden, grundlegend ändern: von einer vormundschaftlichen zur partnerschaftlichen Interessenvertretung, die den einzelnen Beschäftigten den Raum für die Formulierung ihrer individuellen Arbeitsinteressen erkämpft und ihnen bei der Durchsetzung dieser Interessen im Betrieb zur Seite steht. Aber klar ist, daß eine starke durchsetzungsfähige Gewerkschaft nach wie vor notwendig bleibt. Denn auch in Zukunft werden die Betriebe nicht zum herrschaftsfreien Raum. Und die derzeit nur für eine Minderheit gewonnenen selbständigen Entscheidungsrechte der einzelnen Beschäftigten bedürfen der gewerkschaftlichen Rückendeckung, um wahrgenommen werden zu können.