Erleuchteter Fortschritt, venezianische Noblesse

Zum Tod des Komponisten Luigi Nono, zeitlebens Reisender in Sachen politisch geschärfter neuer Musik Umstritten war er wegen seiner KPI-Mitgliedschaft, im Proust-Fragebogen gab er an, er wäre gern Hölderlins Turm, um dem Dichter zuzuhören  ■ N A C H R U F

Ah, denkt man. Manches an Nono ist, wenn es überhaupt begriffen werden kann, am ehesten zu erahnen, wenn es im Licht des Liebhabers ohne festen Wohnsitz betrachtet wird. Fruttero & Lucentini haben in ihrem Venedigroman die Unentrinnbarkeit aus den Fängen der Historie hypostasiert. Der unterliegen die Leute an der Lagune in besonderer Weise, auch wenn sie sich so weit hinauswagen und zum Reisenden werden wie Nono - zum Handlungsreisenden in Sachen der politisch geschärften Neuen Musik.

Entschieden und rücksichtslos gegenüber den Gefühlshaushalten der Konsumenten im Mittelfeld trat er für diese Sache ein. Er politisierte sich in den Nachkriegsjahren - was eine Mode war, aber bei Nono weit mehr; gelangte als Außenseiter bis ins Zentralkomitee der italienischen KP. Vorm festen Wohnsitz auf der Giudecca lag auch der lärmende Hafen und die Industriezone von Maestre. Der Maestro hat das nicht übersehen.

Die Erträge seines langen Marsches zu immer neuer Musik in einer als veränderungswürdig angesehenen Gesellschaft, die Resultate dieser Gratwanderung auf den einsamen Höhen der Kunst zwischen den immanenten Erfordernissen der weiter-, voran-, fortgetriebenen Technik und dem kategorischen Imperativ einer moralisch verstandenen Politik waren stets beachtlich und sorgten drei Jahrzehnte lang für Kontroversen. Der promovierte Jurist Nono stammte aus einer Künstlerfamilie und heiratete in eine Komponistenfamilie ein (seine Frau Nuria ist die Tochter Schönbergs), studierte bei Malipiero, Maderna und Hermann Scherchen (der einst auch der Arbeiterbewegung verbunden war), wandte sich hörbar der Zweiten Wiener Schule zu und trat 1950 mit kanonischen Variationen über Schönbergs Ode an Napoleon hervor einem, nach seinen eigenen Worten, „prononciert antiautoritären Stück“.

Faschismus und Krieg, Auschwitz und Resistance wurden die Themen, die über und unter Nonos Kompositionen der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre liegen: dem Federico-Garcia-Lorca-Epitaph (1953), dem Guernica-Chor (1954), dem Canto sospeso zu Briefen von Widerstandskämpfern (1955), dem ersten Bühnenwerk Intolleranza (1961), der Hiroschima-Gedenkmusik (1962), der Bühnenmusik zur Ermittlung von Peter Weiss (1965). Die Tonbandkomposition Non consumiamo Marx (1969) enthielt auch das Moment von Aufforderung zum Tänzchen in und mit versteinerten Verhältnissen; Siamo la gioventu del Vietnam (1973) beschwor das Hoch auf die internationale Solidarität; die zweite „azione scenica“ Al gran sole carico d'amore wurde als „Revolutionsoper“ gefeiert (dt. Erstaufführung 1978 in Frankfurt).

Der Ton der Klage und Anklage ist bei Nono kaum je zu überhören gewesen. Seine Musik entwickelte ihre eigene, kühle und gemeißelte Rhetorik - oft auf Kosten der Textverständlichkeit.

1961 war Nono aus der „Darmstädter Schule“ ausgeschert, jenem Klub, der sich fürs Zentralkomitee der Neuen Musik hielt.

La fabbrica illuminata für Tonband und Gesangsstimme (1964) setzte einen neuen Meilenstein: Die Erleuchtete Fabrik hatte die Entfremdung der Arbeit zum Thema und bediente sich der Geräusche der industriellen Produktion. Doch anders als die naturalistisch-deskriptive Maschinenmusik der Jahrhundertwende zielte Nono auf die Humanisierung der Arbeitswelt. Nono ging in die Fabriken. Von der Fabbrica illuminata spannt sich der Bogen zum Prometeo (1984), dieser Musik des inneren Feuers: eine „Hör-Tragödie“, die auch das Hören an die Grenzen seiner Möglichkeiten treibt.

Aufhorchen auf ganz andere Weise ließ das Streichquartett Fragmente - Stille . An Diotima, das Nono zum Beethovenfest 1980 beisteuerte; eine fragile Musik, durch die der kalte Eiswind des Flageoletts pfeift, schneidend und wieder verstummend. Trümmer der harmonischen Musiktradition stehen im Raum bei diesem verständigen Disput über Hölderlins bildreiche verstörte Sprache, die sich an gesellschaftlicher Zerstörung sensibilisierte. Die späte Linie in Nonos Werk: das Wandern, Umherirren der Klänge traditioneller Instrumente. Der Reflex auf venezianische Altmeisterlichkeit erscheint als Reaktion auf die Desillusionierung in der Sphäre der Politik. Die Utopie verflüchtigte sich in den Kontext der Architektur - bei der Hommage A Carlo Scarpa, architetto ai suoi infiniti possibili (1987): Architektur als Reich unaufhörlicher Räume, die durchstreift und erforscht werden wollen.

Nun ist das Hinausgehen und das Erforschen der Klangräume, das Nono betrieb, zu Ende gegangen. Der Komponist starb, 66jährig, vorgestern in Venedig. Die zweite Generation der großen Meister der musikalischen Moderne beginnt abzutreten.

Frieder Reininghaus