Beschwichtigungsgesten statt Politik

Der Umgang Genschers und Meckels mit den sowjetischen Sicherheitsinteressen  ■ K O M M E N T A R

Moralische Prinzipienerklärungen sind kein Ersatz für Sicherheitsgarantien. Genschers Maxime, „Verantwortungspolitik“ an die Stelle von Machtpolitik zu setzen, muß sich gegenüber der Sowjetunion in für sie akzeptablen Vorschlägen konkretisieren. Gorbatschow einen Vertrag über eine zeitlich begrenzte Stationierung sowjetischer Truppen anzubieten, verfehlt vollkommen sowjetische Sicherheitsbedürfnisse, die man doch angeblich berücksichtigen wollte. Worum es nur gehen kann, ist ein fester Zeitplan, nach dem die Bündnisse schrittweise in ein kollektives Sicherheitssystem überführt werden. Erst wenn die Institutionen und Kontrollorgane dieses neuen Systems Gestalt angenommen haben, wird die Sowjetunion ihre Truppen abziehen. Genschers Forderung, dem vereinten Deutschland volle Souveränität zuzuerkennen, bricht sich einfach an Stationierungsrechten, die ohne Einwilligung der Sowjetunion nicht aufhebbar sind. Zu ihrer Rechtfertigung bedarf es keines „Übergangsvertrages“. Die vehemente Rhetorik, mit der Genscher vom Anspruch des deutschen Volkes auf die schnelle Klärung aller äußeren Aspekte der Vereinigung redete, paßt schlecht zu seinen Beschwichtigungsgesten. Er fordert die volle Souveränität des vereinten Deutschlands, wiewohl doch klar ist, daß das neue Sicherheitssystem von Anfang an nur funktionieren kann auf der Basis vereinbarten Souveränitätsverzichts. Wie paßt die Perspektive einer mittelfristigen Blockauflösung zu Genschers gleichzeitig geäußerter Hoffnung, das westliche Bündnis zukunftsfähig zu machen?

Vergleicht man Genschers Rede mit der von Meckel vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates, so sind zwar unterschiedliche Akzentsetzungen spürbar, aber es mangelt auch hier an handhabbaren Lösungsvorschlägen. Die Auflösung der Blöcke wird einer fernen Zukunft überantwortet. Wie die Strukturen der Nato zu ändern seien, um für die Regierung der DDR akzeptabel zu werden, bleibt im Dunkeln. Würde Ernst gemacht werden mit der Forderung, zu einer strikt defensiven Militärdoktrin überzugehen, so wären einschneidende Abrüstungsmaßnahmen im konventionellen Bereich (Panzer, Flugzeuge) wie im atomaren (see- und luftgestützte Raketen) zu fordern. Nötig gewesen wäre auch eine klare Unterstützung des CSFR-Memorandums über die Einrichtung einer europäischen Sicherheitsbehörde. Wo soll sich Meckels Vorstellung von einem Zusammenwirken der demokratischen Regierungen Ostmitteleuropas materialisieren, wenn nicht bei diesem Projekt?

Christian Semler