Der FDGB ist nur noch ein bürokratischer Torso

■ Die Weichen für die Entmachtung des gewerkschaftlichen Dachverbandes wurden in Düsseldorf und Ost-Berlin gestellt: DGB-Chef Ernst Breit lehnte eine Kooperation mit dem FDGB ab, die DDR-Regierung wollte ihn nicht als legitimen Vertreter von Beschäftigteninteressen akzeptieren

Einen Tag nach dem spektakulären Beschluß über die Auflösung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) begann der Arbeitstag in dem pompösen Bürogebäude am Märkischen Ufer in Ost-Berlin wie jeden Tag. Und doch war alles anders: „Dürfen wir überhaupt noch arbeiten?“, fragten sich die verbliebenen rund 80 Sekretäre des gewerkschaftlichen Dachverbandes der DDR, die bisher noch für die Koordination der Aktivitäten der Einzelgewerkschaften zuständig gewesen waren. Die Frage war noch nicht beantwortet, als morgens um halb elf rund hundert Frauen und Männer der Textilgewerkschaft protestierend vor dem FDGB-Gebäude anlangten, um hier ihre Forderungen für die soziale Absicherung bei der Umstellung der DDR-Wirtschaft vorzutragen.

Nach dem Auflösungsbeschluß vom Mittwoch ist der einst mächtige Gewerkschaftsbund mit seinen früher mehr als neun Millionen Mitgliedern nicht mehr als ein bürokratischer Torso. Ein politisches Mandat hat er nicht mehr. Forderungen und Aufrufe des FDGB wird es in Zukunft nicht mehr geben.

Der Mißtrauensantrag gegen die erst im Januar gewählte neue FDGB-Führung war von der IG Transport gestellt worden. Schon vorher hatte der Vorstand der IG Bergbau-Energie -Wasserwirtschaft beschlossen, ab sofort die Mitgliedschaft im FDGB ruhen zu lassen. Auch andere Gewerkschaften kündigten derartige Schritte an. Und so war trotz heftiger Meinungsverschiedenheiten schon bald klar, daß der Dachverband als solcher diesen Tag nicht überleben würde. Die Vorsitzende Helga Mausch durfte am Nachmittag nicht einmal mehr vor die Presse treten, um das Ende ihrer kurzen Amtszeit zu verkünden.

Die Weichen für die Entmachtung der FDGB-Führung waren in den Tagen zuvor gestellt worden: in Düsseldorf und Ost -Berlin. In Gesprächen mit Vertretern der CDU und SPD in der DDR hatte DGB-Chef Ernst Breit Anfang der Woche deutlich gemacht, daß es eine Kooperation zwischen den beiden Dachverbänden nicht geben werde. Die DDR-Regierung hatte signalisiert, daß sie den Gewerkschaftsverband nicht als legitimen Sprecher von Beschäftigteninteressen akzeptieren werde. Den Aufruf der FDGB-Führung nach 50prozentiger Lohnerhöhung und Einführung der 38-Stunden-Woche qualifizierte sie als „unzumutbar“ ab - eine Einschätzung, die von vielen Gewerkschaftern geteilt wird. Denn mit diesen Forderungen habe die FDGB-Führung gezeigt, daß sie jeden Bezug zur Realität verloren habe.

Die bundesdeutschen Gewerkschaften haben damit ihre Strategie beim deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß durchgesetzt. Der DGB ließ gestern prompt verlauten, er begrüße den Auflösungbeschluß, und IG-Chemie-Chef Hermann Rappe sprach gar von einem „Sieg für die Demokratie“. Es war ein leichter Sieg, denn der FDGB war schon längst keine ernstzunehmende Kraft mehr, die in die sozialen Auseinandersetzungen der nächsten Monate erfolgreich hätte eingreifen können.

Der bisherige geschäftsführende Vorstand wird nun lediglich die Aufgabe haben, den endgültigen Auflösungskongreß im September des Jahres vorzubereiten und die Liquidation des FDGB-Apparates abzuwickeln. Die umfangreichen Vermögenswerte des FDGB werden auf die Einzelgewerkschaften der DDR aufgeteilt, zum Teil wohl auch an den DGB fallen, der als Rechtsnachfolger des früheren Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) bereits seine Ansprüche auf früher in ADGB-Besitz befindliche Vermögenswerte und Immobilien angemeldet hat. Es ist jetzt schon absehbar, daß die Verteilungskämpfe um das FDGB-Vermögen einen Großteil der Arbeitskraft des neuen, aus den Einzelgewerkschaften gebildeten Sprecherrats absorbieren werden. Die so dringend nötige Artikulation der sozialen Interessen der DDR -Bevölkerung im deutsch-deutschen Einigungsprozeß wird sich auch weiterhin kaum auf starke, selbstbewußte Gewerkschaften stützen können.

Martin Kempe