„Das 'Deutschland‘ hat sie mir übelgenommen“

■ In einer Hausgemeinschaft schlagen sich ein Rentner und ein 30jähriger um einen Schlitten / Der Schlitten gehört einer türkischen Berlinerin, der Rentner soll „Nazi“ sein / In Wirklichkeit geht es um die Unfähigkeit, sich auseinanderzusetzen

Moabit. Der Schlitten steht immer noch an derselben Stelle. Hinter dem Treppenhausgeländer im ersten Stock eines Moabiter Hauses stört er eigentlich niemanden. Doch seit Wochen ist er der Zankapfel zwischen dem Rentnerehepaar J. und der Familie E. Familie E. will das Holzgestell mit Kufen auch im Mai nicht in den Keller stellen. Vorläufiger Höhepunkt des Streits: Eine Schlägerei mit einem schweren Meißel, nach der der 31jährige Robert E. mit einer Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus mußte, der 78jährige Walter J. folgte ihm mit Prellungen und einem blauen Auge.

Zwei Wochen danach sitzt Walter J. bedrückt in seinem Polstersessel und erzählt, daß der Streit vor drei Jahren begonnen habe. Da habe Robert E.s Frau Ilknur (31) Dreiräder unter das Fahrraddach im Hinterhof gestellt. Aus Platzmangel mußten deshalb manche Drahtesel an die Hauswand gelehnt werden, was Walter J. noch heute ärgert. Damals habe er ihr, einer türkischen Berlinerin, nach mehrmaliger erfolgloser Bitte gesagt: „Sie müssen sich mal an Ordnung gewöhnen - wir sind doch in Deutschland“. „Das hat sie mir übel genommen“, sagt er.

Für die Nachbarin Ilknur E. ist Walter J. abgehakt: „Das ist ein Nazi.“ Die 31jährige behauptet allerdings, daß der Streit „zwei, drei Wochen nach der ‘Republikaner-Wahl“ im Januar '89 begonnen habe. Da hätte er sich das erste Mal beschwert, daß „die Fenster dreckig“ seien. Später habe er auch gesagt: „Euch müßte man alle an die Wand stellen!“ Seitdem die „Republikaner“ ins Abgeordneten-Haus gewählt wurden, hat bei Ilknur E. die Angst vor der ausländerfeindlichen Stimmung zugenommen. Und seitdem die Mauer geöffnet wurde, nähmen Überfälle auf Ausländer zu, sagt sie. Jetzt, nach der Schlägerei um den Schlitten, fühle sie sich auch von Walter J. bedroht.

Dabei war das Verhältnis zwischen Familie E. und den Rentnern J. lange Zeit in Ordnung. Nachdem Familie E. vor sieben Jahren in die erste Etage der Wilsnacker Straße neben dem Rentner J. eingezogen war, hat Robert E. den Fernseher der J.s repariert, und die liehen E. häufig Werkzeug aus. „Mein Mann ist immer extra in den Keller gegangen“, erinnert sich Frau J. gut.

Aber nicht nur die Ehefrau ist stolz auf ihren Mann. Nachbarn - und eigentlich auch Familie E. - schätzen den rüstigen 78jährigen, weil er in Haus und Hof einiges tut. Im Hinterhof hat er für rund 20 Fahrräder einen Unterständer gebaut, für die Ascheimer ein Gestell geschweißt. Jetzt wächst im Hinterhof über den Mülltonnen der Efeu. Früher war Walter J. Ingenieur, hatte beruflich auch in Paris und Madrid zu tun. Im Wedding hat er die Fassade vom Chemie -Multi Schering mit hochgezogen. Und vielleicht hat es mit seinem früheren Beruf zu tun, daß Walter J. auf seine alten Tage in einem Mietshaus soviel Energie entwickelt, wie sonst nur politisch Engagierte in einem besetzten Haus. An dem Tag vor zwei Wochen, als es zur Schlägerei um den Schlitten kam, schleppte er kurz zuvor Blumeneimer die Treppe rauf. Die Blumen will er draußen im Hof pflanzen, aber „dann ist Schluß“, kündigt er an. „Wenn ich mich um ‘was kümmere, dann gibt's nur Ärger“, sagt er in seinem Sessel resigniert. Ärger gibt es tatsächlich. Denn Walter J. will nicht nur seine Umwelt gestalten, er will auch Ordnung halten. Und schon Kleinigkeiten bringen seine Welt in der Wilsnacker Straße durcheinander.

Die 28jährige Nachbarin Petra Z. ist genervt, weil Walter J. „immer den Ordnungshüter spielt“. Nachbar Achim F. (33) erzählt, daß er nach seinem Einzug vor fünf Jahren einen anonymen Beschwerdezettel bekommen habe: „In altdeutscher Schrift.“ An den Inhalt erinnert er sich allerdings nicht mehr. Petra Z., die als Hauswartin das Treppenhaus putzt, erzählt auch, daß einmal vor ihrer Tür in den Staub geschrieben war: „Sau“. Und manchmal, wenn Walter J. über den Hof geht, meckere er „in der dritten Person“. Für Achim F. ist der Rentner ein „Denunziant“. Daß Walter J. vielleicht nur Schwierigkeiten hat, seine Meinung den Nachbarn direkt zu sagen, und sie deshalb über Dritte mitteilen will, scheint keine Überlegung wert. Die Wut auf den Rentner aus der ersten Etage nimmt weiter zu: „Hier macht nur einer Stunk, dat is‘ der J.“, so Petra Z. So können die Nachbarn Ilknur E.s Trotz dann auch gut verstehen. „Ich hätte den Schlitten zwar weggenommen“, sagt Ilona F., „aber irgendwann hat man die Nase voll von den Sprüchen und läßt ihn aus Prinzip stehen.“ Und in der Auseiandersetzung um den blöden Schlitten wird Walter J. auch bei diesen Nachbarn schnell zum „Nazi“. „Von Ilknur spricht er nur noch als Türkenfrau“, berichtet Petra Z. Und Achim F. meint: „Der ist in den letzten Jahren ausländerfeindlich geworden.“ Über Afrika habe er gesagt: „Schade, daß das nicht mehr deutsch ist.“

Nach der Schlägerei um den Schlitten konnte er „zwei Tage nichts essen“, sagt Walter J. Er will, daß „es wieder anders wird“. Wieso es zu der tätlichen Auseinandersetzung kommen konnte, kann er sich nicht erklären: „Ich tu‘ doch den Leuten gar nichts. Ich bin doch kein Ausländerfeind“. Dann erzählt er von seiner Tochter in Amerika und daß bei ihr auch Menschen verschiedener Nationalität zusammenlebten. „Wir wohnen seit 22 Jahren in diesem Haus. Wieso geht das hier nicht?“ fragt Walter J., und, nach einer Pause: „Ich würde mich am liebsten mit Herrn E. aussprechen - das ist mein Wunsch.“

Robert und Ilknur E. überlegen nach der Schlägerei wegen des Schlittens, Walter J. anzuzeigen. Sie wollen dessen Bestrafung, weil er die Schuld an dem Konflikt habe. Allerdings haben sie nach der Schlägerei auch überlegt, den Schlitten in den Keller zu stellen. Doch der steht noch immer angebunden am Treppengeländer. „Ich habe die Knoten nicht aufbekommen“, sagt Robert E.

Dirk Wildt