EIN (KORRUPTER) TRAUM VON WELT

■ Eine Reise ins nigerianische Lagos

Von hier aus gingen im 15. Jahrhundert die Karavellen Heinrichs des Seefahrers auf Entdeckungsfahrt, Gil Eanes startete als erster Europäer zur Umsegelung des Westkaps von Afrika, Ceuta wurde erobert. Das „schwarze Elfenbein“, das sie mitbrachten, die Negersklaven, wurden auf dem Markt versteigert. Ehemals wichtiger Handelsplatz der Phönizier, Griechen und Karthager, das bei den Römern Lacobriga und im 13. Jahrhundert, unter arabischer Besetzung, Zawaia (See oder Quelle) hieß. 1587 wurde die Stadt von Francis Drake zu einem Teil verwüstet, bis sie 1755 vom großen Erdbeben erschüttert wurde. Lagos, die Stadt, die diese Geschichte hat und heute von englischen Pubs übersät ist, zwischen denen sich die Einheimischen eher wie Fremde vorkommen, ist eine portugiesische Kleinstadt am südlichen Zipfel Europas und war im 15. Jahrhundert Mittelpunkt der westlichen Welt, so wie das nigerianische Lagos heute der (korrupte) Mittelpunkt der afrikanischen Welt ist.

Korruption - ein unverrückbares Synonym für Nigerias Hauptstadt - Korruption breitet sich unverhältnismäßig schnell aus, wenn die Begierde und das Verlangen die im eigenen gesellschaftlichen System angelegten Spielräume der Verschwendung überschreiten. Es ist die Gleichgewichtsstörung eines maßlos gewordenen Systems. Wie ein Geschwür wuchert sie dann. Der Zufall und der Niedergang sind ihre Verbündeten. Oft genügt eine einzige lokale oder auch weltpolitische Veränderung - die Eröffnung eines neuen Kanals, einer Eisenbahnstrecke, Fluglinie oder Straße, die Errichtung eines Staudamms oder das Versiegen von Ressourcen, die Umorientierung ökonomischer oder konsumindustrieller Interessen - um ein blühendes, prosperierendes Land in den Strudel des Untergangs zu ziehen...

Städte haben ihre Archäologie, die Aufschluß gibt über die vielen Ablagerungen der Vergangenheit und der Bedeutungen, die jede Schicht umgibt. Die Archäologie einer Stadt ist das Entfalten solcher Überlagerungen, das Eindringen in das Unterste, das Sichtbarmachen des Verborgenen, eine Expedition in die „Seele“ einer menschlichen Ansiedlung. In einer Stadt wie Lagos sind diese Schichten so völlig ineinander verschachtelt, verzerrt und verschoben, durch die Schnelligkeit des ökonomischen Wachstums und des moralischen Niedergang so unkenntlich geworden, daß der „Archäologe“ wirklich zum „Ausgräber“ wird. Anders als bei Alexandria, Syracus oder Peking hat das Imaginäre hier unendlich viel an Kraft verloren.

Viele sehen sicher Lagos als eine x-beliebige Stadt unter vielen, wenn sie überhaupt registriert wird. Aber die Statistiker hatten 1985 für eine Überraschung gesorgt: Lagos war die teuerste Stadt der Welt, vor New York, Tokio, Paris, London, Frankfustäbe und die Methode dieser Statistik einer aufwendigen Analyse zu unterziehen, um am Ende herauszufinden, daß unsere Metropolen nach anderen Kriterien doch die teureren waren; interessant ist nur, wie es dazu kam, daß eine derart periphere, weltpolitisch und verkehrstechnisch abseits gelegene, ja manchen überhaupt nicht bekannte Stadt zu einem solchen Ruf gelangte. Zugespitzt formuliert: Damit eine Stadt derart teuer sein kann, muß sie etwas besitzen, was das Begehren auf sich zieht; und etwas, was das Begehrte teuer macht.

Nichts schien bei Lagos für ein solches Begehren, eine nur hier (oder hier optimal) zu stillende Sehnsucht zu sprechen: Lagos ist keine ausgeprägt mythische Stadt wie Babylon, Sanaa oder Persepolis, keine heilige Stadt wie Jerusalem, Mekka oder Chinguetti in der mauretanischen Sahara, keine kultische Stadt wie Marrakech, Timbuktu oder Venedig, keine verbotenen Stadt wie Peking, keine verkannte Stadt wie Triest, nicht künstlich wie Brasilia oder Montevideo, nicht kriminalisiert wie Neapel und nicht todgeweiht wie Beirut, nicht erhaben und nicht sterbenslangweilig, nicht einmalig schön und nicht völlig „unmöglich“ gelegen, keine Stadt nur des Kapitals, keine Stadt nur der Vergnügungen. Und doch hat sie viele diese Vorzüge und Laster, beherbergt sie diese Mysterien und veräußert diese Banalitäten; sie hat das Aufsteigende und das Niederschmetternde in sich aufgesogen und zersprüht es in alle Poren - in diesem feuchtheißen Klima. Zu den Extremen dieser Stadt paßt auch, daß sie heute eine der billigsten Städte Afrikas ist. Sie ist, trotz der überwuchernden Banalität der Korruption, ein „großes Individuum“, wie dies einst Ludwig Curtius von den italienischen Städten sagte.

Nigerias Expansion zum Erdölriesen (1960/70) hat Lagos eine Rolle als afrikanischem Handelszentrum eingebracht, der die Stadt verkehrstechnisch und administrativ nicht gewachsen ist. Sie ist ein Knotenpunkt von Progression und Regression

-mit ungezählten Millionen Einwohnern: eine Ansammlung von über 400 in Nigeria lebenden ethnischen Gruppen, die insgesamt eine Bevölkerung von ca. 100 Millionen bilden.

“...ein System brutaler Ausbeutung..., ein abgeschmackter Kapitalismus. Aber genaugenommen ist dies nicht einmal Kapitalismus - für diese Gesellschaft gibt es keinen Namen, sie ist überhaupt nichts“, so spricht der Nigerianer Wole Soyinka über sein Land, das er liebt, für das er kämpft und schreibt, das ihn brutal eingesperrt hat und für das er, gemäß eines „neuen Denkmodells“ und des Prinzips der kleinen Schritte, im Alltag tätig ist.

Die neue Militärregierung - sie soll 1992 ihre Macht an eine Zivilregierung abgeben - kümmert sich wenig um die öffentliche Meinung; und um das Volkswohl? Das Land hat 30 Milliarden Dollar Schulden. Seit Anfang der achtziger Jahre die Ölpreise stetig fielen, ist aus den „Ölmilliarden“ ein Phantasma, aus dem „Segen“ ein „Fluch“ geworden. Die Inflation ist nicht aufzuhalten. Das Heer der Arbeitslosen wächst rapide; die Löhne werden gekürzt, das Gesundheitswesen wird beschnitten. Die Gefängnisse füllen sich mit politischen Häftlingen.

Wie soll Nigeria seinen „eigenen“ Weg gehen können? Soyinka und Ekwensi haben die People of the City und The Road - so die Titel zwei ihrer Werke - schonungslos beschrieben: die Straßen/verkehrs/hackordnung, den täglichen Kannibalismus. Erst hat die Stadt die Familien zerstört, jetzt zerstört sie sich selbst. Der „city novellist“ Ekwensi schreibt: „Gegen die Stadt gibt es kein Heilmittel. Sie zerstört sich selbst. Die Stadt: Das ist die hereinbrechende Industrie; das sind die Politiker, die gierig alles an sich reißen; das ist die Wohnungsnot; das ist Unzucht, Mord und Totschlag - und der Tanz ums Geld, das wie ein Gott alles beherrscht. Das ist die Stadt. Alles dreht sich um diese Dinge. Ändern können Sie da gar nichts.“

Lagos, der Moloch, der unablässig die Kinder Nigerias frißt (Soyinka), ist mit sieben bis zehn Millionen Einwohnern hoffnungslos überbevölkert, und die Stadt wächst beständig. Heute lebt schon über die Hälfte der nigerianischen Gesamtbevölkerung in den Städten; 1960 waren es noch nicht einmal zehn Prozent. Nigerias Bevölkerungszuwachsrate steht an der Spitze in Afrika. Woran wird das Land zerbrechen: an der Überbevölkerung und an der spannungsgeladenen Völkervielfalt, an dem Fetisch Bildung (Jeder hat das Recht auf Ausbildung, was zu massenhafter Überqualifikation und Landflucht führt) oder an den Folgen des Ölbooms, der die Gesellschaft so grundlegend umstrukturiert hat, die traditionellen Lebensformen sowie die Agrarwirtschaft zerbrach und die Moderne so verlockend nahebrachte?

„Nigeria steht auf dem Kopf; alles ist verrückt. Das Land ist ein Irrenhaus...“ (Kole Omotoso) Unablässig versucht man, dieses Irrenhaus in Statistiken zu erfassen, sein Chaos zahlenmäßig zu begrenzen: 434 registrierte Völkergruppen, eine Bevölkerungswachstumsrate von 3,3 Prozent und eine Inflationsrate von 25 Prozent. Aber diese Zahlen bleiben abstrakt; sie sagen nicht viel über die reale Komplexität, die Disharmonien und das „Brodeln“ in diesem Land. Mit gutem Grund haben viele Menschen eine geradezu panische Angst vor der präzisen Erfassung der Unordnung, vor der objektiven Bestandsaufnahme. Der Sozialwissenschaftler Prof. Ajibade spricht von der „Magie des Circa“: „Objektives Wissen würde uns erdrücken. Eine exakte Zählung würde das Ende der Quadratur des Kreises bedeuten.“ (Jenseits der exakten Zahlen liegt das Leben. Und über das schweigt sich der Autor aus - d.S.) Der Historiker Prof. Koroma meint, exaktes Wissen ziehe nur Ansprüche und Forderungen nach sich, die in Wirklichkeit gar nicht erfüllt werden könnten. Im Grunde wüßten die Menschen genau (oder richtiger: „ungefähr“) so viel, wie sie wissen müssen, um koexistieren zu können. Alle zählen und zählen nach, was die (siebzehn) Tageszeitungen und die (vier großen) Wochenmagazine vorzählen. Aber wie soll man jemanden eindeutig erfassen und in einer Tabelle einordnen, der zwei Religionen haben kann oder der drei Sprachen versteht?

Dieses Reich des Ungefähren und Unwägbaren entzieht sich den Statistiken und den (westlichen) (männlichen - d.S.) Methoden zur Erfassung einer Kultur. Zuviele Unbekannte, zahlenmäßig nicht greifbare Mehrdeutigkeiten, zu komplizierte Beziehungsstrukturen verhindern das technokratische Registrieren, die prozentuale Verfügung über die nigerianische Gesellschaft und ihre Städte.

Lagos ist kein Traum von Leben, und doch hat mich kaum eine andere Stadt in der Erinnerung so beschäftigt, kaum eine, in der ich mich so fremd und für Augenblicke fast ekstatisch wohl fühlte. Es ist diese Überraschung, die jeder kennt, der in Städten Nordafrikas oder des Orients reiste, wenn sich völlig unerwartet mit einem Schritt von der Straße weg eine andere Welt eröffnet: dieses scharfe Aneinanderstoßen grundverschiedener Welten, der Übergang von heute in 1001 Nacht. Aber in Lagos hat dies nichts Unwirkliches an sich, nichts phantastisch Entrücktes, sondern bleibt gegenwärtig. Die Tradition hat nichts Übermächtiges, sie läßt dem Fremden viel mehr Raum, mehr Gegenwärtigkeit. Er versinkt nicht gleich in ein Reich der Mythen und Phantasien, verliert sich nicht in besetzten Gebieten. Er scheitert nicht am Signifikanten. Die Vielfalt ist einfach gemischt: im Durcheinander aller (auch kolonialistischen) Stile und Besonderheiten, Kuriositäten und Alltäglichkeiten.

Ich glaube, Lagos ist die einzige Stadt, aus der ich nichts mitgebracht habe. Ich hätte die Stadtviertel abfotografieren müssen, denn nur sie waren es, die mich zum Bleiben hätten verführen können und die ich - idealisierend - in mich aufgenommen habe.

Diese bis zum Extrem uneinheitlichen Stadtviertel „liegen wie Inseln im...“ - nein, das wäre die poetische Umschreibung, gültig für viele andere Städte. Hier ist das Diverse nicht geschieden. Es gibt nicht dieses Exotische und jenes „Andere„; alles ist untrennbar miteinander verbunden. Diese Stadt ist ein Ungeheuer. Und gigantisch: die Straße vom Flughafen ins Zentrum ist so breit angelegt, daß viele Fahrer einfach ihre kaputten Autos in der Mitte abstellen. Die Straße ist Symbol des Fortschritts und der Bewegung, und Friedhof zugleich. Ein Hochhaus wird gesprengt, weil es mit unlauteren Mitteln gebaut wurde. Die Korruption ermöglicht das Bauen und die Zerstörung.

Hans-Jürgen Heinrichs

Aus: Der Reisende und sein Schatten, Frankfurter Verlagsanstalt, April 1990