Die Struktur einer Motte

■ Carel Visser im Sprengel Museum Hannover

Lkw-Reifen und ranziges Speiseöl gehören ebenso zu seinem Arbeitsmaterial wie Walzeisenabschnitte und Zeitungsausrisse. Der große alte Mann der niederländischen Skulpteure, Carel Visser, zeigt im Sprengel Museum Hannover und im „Forum des Landesmuseum“ plastische Arbeiten der letzten zehn Jahre sowie einige Bleistiftzeichnungen und großformatige Collagen.

Carel Visser liebt die Tiere. Wenn er über Kunst spricht, spricht er leise und konzentriert, formuliert Selbstverständlichkeiten: Ein Mann, der in 40 Jahren seine ästhetische Sprache gefunden hat, seiner Form sicher ist. Kommt die Rede auf Frösche, Hunde, Blauwale oder Heuschrecken, richtet sich Carel Visser auf, wird lebhaft und plaudert, sekundiert von seiner Frau. Ihre bildhaften Geschichten erhellen mit einem Schlag, was der theoretische Diskurs nur mühsam ins rechte Licht zu setzen vermochte.

Der große bullige Zweiachser Fahrender Wagen, der wie ein stillgelegter Bolide daherkommt mit seinen Bergen von Hanfstricken, den zwei bemoosten Lastwagenachsen, der Tränke und dem Häuflein stacheliger Tierhaut obenauf, trägt solch eine Geschichte, befördert sie gewissermaßen mit Leichtigkeit. Vor einigen Jahren kam Visser auf die Idee, plattgefahrene Igel von der Straße zu sammeln, sie zu trocknen und aufzubewahren. Sie reihten sich ein in seinen schier unerschöpflichen Lagerbestand von Kanistern, Schläuchen, Windschutzscheiben und scheckigen Volkswagendächern. Auf diesen Fundus greift er zurück, wenn eine Idee da ist. Als er 1987 am Wagen saß, war seine älteste Tochter zum ersten Mal schwanger. Der Hanfberg mitten auf dem Holzchassis wuchs wie der Bauch der werdenden Mutter - „und die Igel darüber, das sind wir, meine Frau und ich, ganz vertrocknet“.

Die Anekdote weist unmittelbar in das Zentrum Visserscher Philosophie. Zeit seines Lebens hat er sich mit dem Wechselverhältnis von Natur und Prinzip beschäftigt, mit Ordnungsmustern, die der unmittelbaren Anschauung entsprungen sind: „Wenn ich eine Motte sehe, sehe ich die Struktur einer Motte.“ Für Visser gibt es kein Chaos in der Natur, bloß unzerstörbare Gesetzmäßigkeiten. Während er erklärt, zeichnet er schon wieder: einen Baum und seine Wurzeln und den Horizont als Spiegellinie. Das „Porträt der Natur mit anderen Mitteln“ war zeitlebens seine Maxime, sogar in den siebziger Jahren, als er mit einfach gefalteten Industrieblechen und konstruktiven Stahlplastiken Aufsehen erregte.

Der Eingriff in vorgefertigte Bauteile und das Arrangieren von Schrott oder Wasserflaschen, Joghurtbechern und anderen Abfällen der hochtechnisierten Kultur findet seine Gemeinsamkeit über die lange und oft widersprüchlich erscheinende Werkgeschichte Carel Vissers hinweg im nie ermüdenden Interesse an den Organisationsformen von Leben. Da wachsen monströse Würmer aus Pappkartons, vermeint man schnaubende Ungetüme in Dosen, Reifen und Pferdegeschirr zu erkennen, als gäbe die Materie ihren Dämon frei. Immer findet sich eine Dissonanz in diesen Arbeiten, stecken struppige Federkiele in Plastikstrohhalmen, die sich mit einemmal in ihrer wackligen Perfektion entdecken. Sein Interesse gilt dabei dem benutzten Gegenstand, dem objet trouve, das wie kein anderes die Spuren der Zeit trägt, wo schon das Material Geschichten erzählt. Das Glatte liegt Carel Visser nicht. Seine Objekte sollen „rauh“ sein, das ist seine Form der Vollkommenheit.

In den kleineren Tischinstallationen, denen etwas von dreidimensionalen Plänen für Großprojekte eignet, scheint die Möglichkeit auf, die im übrigen recht solitären Ideen Vissers in einen zeitgeschichtlichen Bezug zu setzen. Brachwasserpumpe ist ein kongenialer Entwurf zu den sozioökonomischen Ansätzen von Beuys, in denen sich wie selten gesellschaftliches Engagement und avancierte Formsprache verbinden, vehemente Zeichen in einer schon längst von Katastrophe bestimmten Gegenwart. Der Lauf der Dinge, wie die komische Version dieses finalen Epos bei Fischli und Weis heißt, ist chemisch, hochtoxisch.

Kunsthandwerklich sauber gearbeite Messingklammern fassen vier Rinderschulterblätter zu einer Schale zusammen, fast ein Opfergefäß: Skulptur für eine Frucht. Da wird seine Leidenschaft für vorgeschichtliche Plastiken kenntlich. Dazu wird klar, daß eine wesentliche Qualität Vissers sich in der Balance zwischen mythischer Größe und irdischer Standfestigkeit findet. Bei Visser tritt man ein, statt ehrfürchtig Abstand zu nehmen.

In der Enge eines Flugzeugsitzes eingeklammert von unbekannten Mitreisenden, beim Rattern eines Zuges auf endlosen Wegstrecken entstehen die Ideen zu den Arbeiten. Auf seinem Landsitz zwischen grünen, baumlosen Wiesen in Geldern, wohin er sich vor zehn Jahren aus Amsterdam endgültig zurückgezogen hat, führt er diese Skizzen schließlich aus, umgeben von seinen Katzen, Schafen, einem Bullterrier und anderen Freunden des Hauses.

In diesem bäuerlichen Ambiente mag Visser auch die synästhetischen Freuden spüren, die sein Werk wie Beiwerk transportiert: Die zahllosen aufgebohrten Kokosnüsse auf dem zweiten großen Wagen verströmen eine butterigen Dunst, an dem sich schon zwei Tage nach Ausstellungsbeginn ein Schwarm Fliegen delektiert. Die frischen Seile reizen zum Schnuppern, der Gang durch die Hallen verbindet sich bald auch mit einem Blick in jedes Gefäß, das als Fuß oder Krone einer Plastik fungiert und auf dessen Boden diese oder jene undefinierbare Essenz vor sich hin gärt. Instabile Stoffe nennt das die aufgeklärte Kunsttheorie, doch es ist vor allem ein Fest für die Nase.

Einen wichtigen Anteil an der vitalen Wirkung dieses OEuvre hat der Boden, auf dem die Objekte stehen, hat der Raum, mit dem sie stärker als die Arbeiten anderer Bildhauer in ein Zwiegespräch treten. Visser reagiert präzise, aber unaufdringlich auf die Architektur, plaziert seine Arbeiten mit enormem Einfühlungsvermögen. Die Industrieatmosphäre des Georg-von-Cölln-Hauses, in das nach der aufwendigen Restaurierung das „Forum“ Einzug gehalten hat, und das Sprengel Museum mit seinem rotbraunen Pflaster können in diesem Sinn als ideale Ausstellungsorte gelten. Vissers Arbeiten präsentieren sich hier in einer klimatischen Dichte und mit einer ursprünglichen Energie, wie man sie in der Gegenwartskunst nur zu selten findet.

Angela Lautenbach / Olaf Arndt

Ausstellungsdauer: bis zum 27. Mai im Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz (Di 10 bis 22, Mi bis So 10 bis 18 Uhr) und im Forum des Landesmuseum, Am Markte 8 (Di/Mi, Fr bis So 10 bis 17, Do 10 bis 20.30 Uhr); Katalog: 84 Seiten, zahlreiche Farb- und S/W-Abbildungen, 25 DM