Eine Generation begeht Selbstmord

■ Auf dem Filmfest in Cannes läuft heute als kolumbianischer Wettbewerbsbeitrag „Rodrigo D. - No future“: ein neorealistischer, fast dokumentarischer Film über die sich selbst mordenden Jugendlichen in Medellin

Ciro Krauthausen

In den Armenvierteln einer kolumbianischen Großstadt steigt eine ganze Generation von Jugendlichen aus der Gesellschaft aus und verabschiedet sich von Kirche, Staat und Institutionen. Das kommt überall vor: Nur, die von diesen Jugendlichen zusammengeschusterte Subkultur läuft auf den Tod hinaus. Nicht um den Tod als winkendes Skelett auf dem T -Shirt geht es, sondern darum, sich so früh wie möglich aus dieser Welt zu verabschieden und vorher anderen zu diesem Abschied zu verhelfen. „Eines Tages“, berichtet Regisseur Victor Gaviria, „erzählte man mir, sie hätten einen Typen erschossen. Ich fragte, wieso. Sie sagten mir, es sei wegen nichts gewesen. Wegen der Neugier, ihn auf die andere Seite zu schubsen.“ Rund 4.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr in der Zwei-Millionen-Stadt Medellin ermordet, fünfmal soviel wie in der Bundesrepublik in einem ganzen Jahr. 70 Prozent der Ermordeten in Medellin waren zwischen 14 und 19 Jahre alt. Victor Gaviria drehte seinen Film 1986. Vier Jahre später, als Rodrigo D. endlich fertig geschnitten war, sind sechs der Jugendlichen, drei Haupt- und drei Nebendarsteller, tot. Erschossen von Gleichaltrigen, von der Polizei, von der Drogenmafia, wer weiß von wem.

Rodrigo ist 18 Jahre alt. Seine Mutter, früher Hausangestellte einer kleinbürgerlichen Familie, ist schon seit Jahren tot. Rodrigo lebt mit seinem Vater, seiner Schwester und seinem kleinen Bruder in einem Häuschen, das wie alle Häuschen der Medelliner Armenviertel an einem steilen Berghang gebaut ist. Ein bißchen Geld verdient sich Rodrigo, indem er hin und wieder an der Grundschule mit Bazuko dealt, einem Crack-ähnlichen Kokain-Verschnitt. So richtig parieren tun die Zwölfjährigen, die als Unterhändler dienen, aber nicht. Ansonsten hängt Rodrigo rum, zu Hause oder auf der Straße. Er redet nicht viel. Zu sehen ist immer nur sein verschlossenes, schmerzerfülltes Gesicht. Rodrigos größter Traum ist es, in einer Punkband zu trommeln. Einmal rafft er sich auf, geht zu einer Schreinerwerkstatt und hobelt sich zwei Trommelstöcke zusammen. Mit denen wird er fortan auf alles trommeln, was in seiner Reichweite ist. Von morgens bis abends monotone Rhythmen, der Blick ins Nichts.

Es tut sich nicht viel in diesem Film: keine klassische Handlung, keine Liebesgeschichte, noch nicht einmal Blut. Die Lage ist ausweglos, immer wieder zeigt der Film seine Personen hinter Gittern. Ein paar Leute kennt Rodrigo in seinem Viertel. Der gleichaltrige Adolfo etwa ist der Freund seiner Schwester. Der blonde Lockenkopf liebt es, ihr teure Geschenke zu bringen, sie an seinem Killerruhm teilhaben zu lassen. Dabei haßt er es, wenn ihm sein Tod vorausgesagt wird. Er weiß ohnehin, daß es ihn früher oder später erwischen wird. Adolfo ist dabei, ein professioneller Killer zu werden. Er kann ein Motorrad klauen, einen Menschen erschießen und sich danach gut verstecken. Seine Mutter hat er unbändig lieb; einmal holt er sie abends aus dem Bett, um mit ihr, einen Joint in der Hand, spazierenzugehen. Adolfo wird schnell aggressiv, er gibt den Ton an.

Ramon, mit seinem zarten Gesicht, wäre auch gerne wie Adolfo. Aber Ramon ist der Außenseiter, der keine Chance hat, was er auch tut. Zusammen mit dem „Skorpion“, einem kurzgeschorenen Punk, klaut Ramon ein Auto, aber es geht alles schief. Erst müssen sie viel zu lange mit der Pistole herumfuchteln, um der schreienden Frau ihr Auto abzunehmen. Dann, schon auf der Flucht, bemerken sie endlich den Grund der Hysterie der Frau: ein verdutztes Kleinkind auf dem Rücksitz. Sie lassen es am Straßenrand liegen. Ramon ist viel zu unsicher, um sich Respekt zu verschaffen. Er muß sterben.

Skorpion, Rodrigo, Adolfo, Mary, Ramon und Burrito: richtig befreundet sind sie nicht, sie tun sich nur zusammen. Um ein Motorrad zu klauen, eine Karre zu mieten oder eine Flasche Schnaps zu kippen. Aber die Bündnisse können jeden Moment aufbrechen. Irgendwo am Berghang, in diesem verwirrenden Labyrinth von kleinen Wohnungen und Häusern, wo jedes Dach die Terasse des Nachbarn ist, knallt es dann kurz und trocken, und wieder hat einer den ersehnten Tod erreicht. Medellin lieht in einem Bergkessel der Anden. Unten, im Tal, floriert das Geschäftsleben in modernen Hochhäusern. Oben an den Berhängen: die Armenviertel. Immer wieder kontrastiert die Kamera Rodrigos oder Ramons Gesicht mit Bildern von der Stadt, die dort unten im Smog und Nebel wie ein Ungeheuer liegt. Die Pistolocos, die „durchgedrehten Pistolen“, wie die Jugendlichen manchmal genannt werden, haben mit jenem anderen Medellin nichts zu tun. Nur selten haben sie Grund, es aufzusuchen: wenn es gilt, jemanden ins Krankenhaus zu bringen, wenn ein Auto gebraucht wird, ein Mord ansteht.

Nostalgiker erzählen noch gerne von dem „Silbertäßchen“ Medellin. Gemeint ist damit nicht nur die ausgesprochen schöne Lage der Stadt, das milde Klima und die nach wie vor sympathischen Menschen mit ihrem singenden Spanisch. Gemeint ist auch das Juwel des „kolumbianischen Fortschritts“. Eine merkwürdige Mischung aus Siedlergeist, tiefem Katholizismus und großen Familienverbänden stand Pate, als die Provinz Antioquia mit ihrer Hauptstadt Medellin erstmals in Kolumbien Unternehmerfleiß und -Weltanschauung aus der Taufe hob. Hier wurden die ersten Fabriken gebaut, von hier aus expandierten Industrie und Handel. Vor allem die Textilfabriken machten Medellin zu der Industriestadt Kolumbiens. Die „paisos“, wie die Leute aus der Provinz Antioquia genannt werden, sind berühmt für ihren guten Riecher bei allen möglichen Geschäften - kapitalistische Ethik in einem jahrhundertelang ländlichen Kolumbien. Doch der Ruhm Medellins verblaßte, als die steinreichen Industriellen sich gegen neue soziale Aufsteiger abschirmten, ihre Unternehmen nicht mehr expandieren ließen und sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen begannen. Hunderttausende von Emigranten, die auf der Suche nach Arbeit die ländliche Umgebung verlassen hatten, sahen sich, einmal in der Stadt angekommen, vor verschlossenen Türen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Emigranten aber ebenfalls den kapitalistischen Unternehmergeist zu eigen gemacht: Nur wer Geld hat, ist etwas wert. Spätestens als das Geld nicht mehr auf legalem Wege zu machen war, tickte die Zeitbombe.

Rodrigo D. schildert die Explosion. Rodrigo und die Leute, mit denen er Kontakt hat, haben es aufgegeben, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Geld ist ihnen viel wert, auch modisch gekleidet sein ist wichtig. Doch eine Arbeit zu suchen, ein „normales“ Leben zu führen, erscheint sinnlos. Die einen, die „amuraos“, die „Gassensteher“, lehnen nur noch gläsernen Blicks an Häuserwänden und konsumieren jede Droge, die ihnen in die Quere kommt. „Die 'amuraos'“, schreibt Victor Gaviria in einer Erinnerung an einen seiner Schauspieler, „sind lebende Tote, aber sie sind auch auf ihre Weise die Geistesgegenwärtigsten, diejenigen, die am meisten geglaubt und erwartet haben...“ Die anderen sind die „carro-locos“, die „verrückten Autos“: „Jugendliche, die von hier nach dort gehen, von allem gekänkt, enttäuscht, geboren zu sein, besessen vom Willen, irgendeine Identität und sei es die des Todes zu besitzen, immer darauf wartend, daß irgendwo die Flamme des Skandals und der Grausamkeit aufflackert, um jemanden abzuknallen oder abgeknallt zu werden.“ „Amuraos“ und „Carrolocos“ wissen vor allem eines: Sie haben keine Zukunft.

Im Film ziehen sie sich hin und wieder in ein verlassenes Landhaus ganz oben am Berg zurück. Dort schwimmen sie in einem verlassenen Schwimmbad, rauchen Marihuana, jonglieren über die Baracken und fechten mit Holzstöcken. In einer Nische vergammelt eine Madonna. Skorpion, Adolfo und Rodrigo tanzen auf den Ruinen der Weltanschauung ihrer Eltern. Arbeit gibt es keine, Geld ist eine Frage der Gewalt, die Väter haben sich aus dem Staub gemacht, Gott ist eine Farce. Einige glauben noch an Heilige.

Was bleibt, sind die Mütter. Zu einer Journalistin sagte ein Killer aus Medellin eimmal: „Eine Mutter gibt es nur einmal. Vater, das kann jeder Hurensohn sein.“

Die Jugendlichen haben begonnen, sich ihre eigene Welt einzurichten. Die Sprache, die sie sprechen, ist selbst für Kolumbianer manchmal nicht mehr zu verstehen. Der Film soll mit Untertiteln versehen werden - auch für die Aufführungen in der Hauptstadt Bogota. Da ist die Musik noch verständlicher. Rockmusik war in Kolumbien jahrzehntelang die Sache reicher Söhne und Töchter der Bourgeoisie, und dementsprechend klangen die Beatles-Verschnitte auch. Nun wird an den Berghängen Medellins echter Punk oder dröhnender Heavy-Metal gemacht. Das nervenaufreibende Stakkato durchzieht den ganzen Film: Rockmusik an ihrem Ursprung. In Lateinamerika. Tausende von Kilometern von London entfernt. „Scheiß Polizisten / Scheiß Mafiosi / Alles Scheiße.“ Monoton trommelt Rodrigo auf die Mauer.

Victor Gavirias Film ist das Werk eines Dichters, nicht das eines Sozialwissenschaftlers. Obwohl alle Ursachen für die Katastrophe im Film benannt sind, werden sie nicht an den Fingern aufgezählt. Es geht um Menschen und ihre gescheiterten Träume. Gaviria und sein Team lebten mit den Jugendlichen und gestalteten mit ihnen zusammen den Film. So ist Rodrigo D. auch eine Selbstdarstellung seiner Akteure. Im Unterschied zu den politisierten Klassikern des neorealistischen Genres gibt es keine Schuldzuweisungen. Auch aus Sicherheitsgründen zogen die Filmemacher es vor, die zumal im Ausland bekannten Akteure der kolumbianischen Gewalt aus dem Spiel zu lassen: Weder die Drogenmafia noch die Polizei tauchen im Film explizit auf. Das eröffnet die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Zerfall genau zu proträtieren. Die Drogenmafia, das zeigtRodrigo D. ganz deutlich, hat sich die selbstmörderischen Killer nicht herangezogen, das Kokain-Kartell von Medellin ist umgekehrt durch das brodelnde Gewaltpotential erst mächtig geworden. Die Drogenbarone können es sich leisten, nur die besten und härtesten unter den Pistolenschützen der Armenviertel auszuwählen. Für viele Jugendliche in Medellin ist es das höchste Karriereziel überhaupt, ein Killer der Mafia zu werden.

Als Ende vergangenen Jahres in Bogota Rodrigo D. uraufgeführt wurde, waren die Reaktionen gemischt. So ziemlich alle Zuschauer stimmten zwar mit dem Filmkritiker Luis Alberto Alvarez überein: „Ein legitimes und treffendes Beispiel für jenes Kino, das wir nicht mehr für möglich gehalten haben.“ Gerade für Kolumbianer aber ist die sich widerspiegelnde Realität erschütternd. In den Tagen der Uraufführung veröffentlichte eine Wochenzeitschrift ein Foto: Der jugendliche Killer aus Medellin, der im März 1989 im Flugfhafen von Bogota auf zwei hohe Politiker schoß, versuchte damals nicht zu flüchten. Als er das Magazin seiner Maschinenpistole geleert hatte und vor ihm eine Leiche lag, dachte er nicht daran, sich zu schützen. Er improvisierte einen jubelnden Tanzschritt - wie der Fußballer nach einem Tor. Sekunden später wurde er erschossen. Eine ganze Generation begeht Selbstmord.